Die Klimakrise als Krise der Wirtschaftswissenschaften

Katharina Keil und Max Wilken
Economists for Future, 2020
Level: leicht
Perspektiven: Ökologische Ökonomik, Marxistische Politische Ökonomik, Neoklassik, Diverse
Thema: Krisen, Reflexion der Ökonomik, Ressourcen, Umwelt & Klima
Format: Essay

                



Im Angesicht der Klimakrise und der Fridays-for-Future-Proteste hat das Netzwerk Plurale Ökonomik unter #Economists4Future dazu aufgerufen, Impulse für neues ökonomisches Denken zu setzen und bislang wenig beachtete Aspekte der Klimaschutzdebatte in den Fokus zu rücken. Dabei geht es beispielsweise um den Umgang mit Unsicherheiten und Komplexität sowie um Existenzgrundlagen und soziale Konflikte. Außerdem werden vielfältige Wege hin zu einer klimafreundlichen Wirtschaftsweise diskutiert – unter anderem Konzepte eines europäischen Green New Deals oder Ansätze einer Postwachstumsökonomie. Hier finden Sie alle Beiträge, die im Rahmen der Serie erschienen sind.

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Die Klimakrise als Krise der Wirtschaftswissenschaften

Katharina Keil und Max Wilken

Erstveröffentlichung im Makronom

„Die Mathematik des Klimas ist brutal deutlich: Die Welt kann in den nächsten Jahren nicht geheilt, wohl aber bis 2020 durch Nachlässigkeit tödlich verletzt werden.“ Wenn Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, mit dieser Schätzung auch nur annähernd richtig liegt, dann bleibt der Menschheit noch etwas über ein Jahr, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu verhindern.

Angesichts dessen ist es überraschend, dass viele Volkswirt:innen zur Bekämpfung des Klimawandels wenig Neues zu sagen haben: Der Ruf nach einer CO2-Bepreisung erscheint angesichts der notwendigen Transformation unseres Wirtschaftens seltsam ambitionslos. Die Botschaft lautet: Wenn der Staat richtig bepreist, stellen sich die notwendigen Änderungen von selbst ein. Derweil läuft der Menschheit die Zeit davon, um die Klimakatastrophe in lenkbaren Bahnen zu halten. Die Wirtschaftswissenschaft als einflussreiche Sozialwissenschaft müsste also grundlegende Fragen bezüglich unserer Wirtschaftsweise beantworten. Stattdessen verbleibt sie allzu oft in einer abstrakten, mathematischen Modellwelt.

 

Vorschläge sind in der neoklassischen Theorie verankert

Trotz wachsender Vielfalt in der Forschung dominiert die häufig als Neoklassik bezeichnete Theorieströmung der VWL ungebrochen Lehre und Politik. Sie entwickelte sich im 19. Jahrhundert als Versuch, die Methoden der Naturwissenschaften und insbesondere der Physik auf soziale Phänomene anzuwenden. Auf der Suche nach einer „exakten” Sozialwissenschaft werden gesellschaftliche Zusammenhänge soweit abstrahiert, dass Berechnungen möglich werden. Die neoklassische VWL stellt sich also vor allem eine Frage: Wie optimieren rationale Akteure unter gegebenen Umständen? Diese Herangehensweise ist für sich genommen nichts Schlimmes. Doch angesichts der ökologischen Krise müssen wir uns gesellschaftlich ganz andere Fragen stellen: Wie kann der planetare Kollaps verhindert werden? Wie kann ein Wirtschaftssystem aussehen, dass sozial, gerecht und ökologisch ist?

Stets soll die notwendige Emissionsreduzierung durch Bepreisung von CO2 erreicht werden – andere Steuerungsmöglichkeiten bleiben diesem Ansatz untergeordnet.

Die Dominanz der Neoklassik lässt sich unter anderem daran festmachen, dass diese Fragen in der aktuellen Debatte strukturell marginalisiert sind. Die gesellschaftliche Diskussion rund um den Umgang mit dem Klimawandel wird von marktwirtschaftlichen Instrumenten dominiert. Seien es die Forderungen von Fridays for Future, die Empfehlungen des Sondergutachtens des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung oder der als Green New Deal bekannte Gesetzesvorschlag von Alexandria Ocasio-Cortez: Stets soll die notwendige Emissionsreduzierung durch Bepreisung von CO2 erreicht werden. Andere Steuerungsmöglichkeiten, etwa über das Ordnungsrecht, bleiben diesem Ansatz untergeordnet.

Im Sondergutachten des Sachverständigenrats drehte sich trotz des vielversprechenden Titels („Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik”) alles um die Bepreisung. Um die Gründe und Konsequenzen dieser inhaltlichen Engführung zu verstehen, lohnt es, sich das Sondergutachten genau anzuschauen – vor allem, weil es seit seinem Erscheinen die klimapolitische Debatte in Deutschland prägt.

 

Der Markt definiert den politischen Handlungsspielraum

Das wirtschaftswissenschaftlich informierte Verständnis des Klimawandels und die daraus resultierenden Politikempfehlungen entstehen auf dem Fundament einer Modellwelt, die nur in den bestehenden Kategorien einer Form von Marktwirtschaft denken kann, in der der Markt den politischen Handlungsspielraum bestimmt. Dies lässt sich gut anhand des Sondergutachtens analysieren.

Dort findet die auf zahlreichen Annahmen beruhende Setzung des Marktmodells implizit statt. So heißt es: „Preise haben auf Märkten eine zentrale Funktion: Sie senden Signale, an denen die Akteure ihr individuelles Handeln ausrichten, und sorgen auf diese Weise für die Koordination aller Einzelentscheidungen. In funktionierenden Märkten sorgen sie zudem dafür, dass das Gesamtergebnis effizient erreicht wird.” Und weiter: „Der Staat kann das Funktionieren von Märkten sicherstellen, indem er dem Marktgeschehen einen stabilen Rahmen gibt[…].” Dem Markt wird durch diese Aussage Effizienz und dem Staat eine rahmengebende Funktion zugesprochen. Diese wertende Aussage wird jedoch kaum begründet, sondern als objektive Wahrheit vorangestellt, obwohl lediglich die Funktionsweise eines Modells der Wirtschaft beschrieben wird.

Im Gutachten heißt es weiterhin, dass „eine rationale Klimapolitik (…) dem ökonomischen Prinzip der Arbeitsteilung folgen” sollte. Rational heißt in diesem Fall, dass sie dem entspricht, was unter Ökonom:innen als nutzenmaximierend gilt. Dieser Ansatz ist als Grenznutzentheorie bekannt und wird als objektiver Zugriff auf wirtschaftliche Fragen gesetzt. Er wird entsprechend nicht expliziert und einer kritischen Diskussion zugänglich gemacht, sondern als allgemeine Wahrheit vorangestellt. Damit nimmt das Modell eine ontologische Funktion ein: Wie die Welt aussieht, was in ihr veränderbar ist und wie weit Wandel gehen kann, wird durch die Grenzen des Modells bestimmt. Für die klimapolitischen Vorschläge hat das gravierende Konsequenzen.

 

Eine Frage des Bruttoinlandsprodukts oder des Überlebens?

So denken Ökonom:innen vorwiegend in berechenbaren Kategorien. Entsprechend wird der Klimawandel in der Darstellung des Sachverständigenrats als „Bedrohung des deutschen und globalen Wohlstands” dargestellt, statt, wie von Klimaforscher:innen betont wird, als Bedrohung menschlichen Lebens auf der Erde.

Der Sachverständigenrat bezieht sich in seiner Analyse auf William Nordhaus´ Modell der Kosten-Nutzen-Analyse, welches zeige, „dass sich unter Umständen ein optimaler Pfad abseits der Begrenzung der Erwärmung auf maximal 2 Grad ergeben könnte”. Selbst unter pessimistischen Annahmen wäre demnach eine Erderwärmung um 3 Grad bis 2100 optimal. Entsprechend wird vermerkt: “Für die Industriestaaten dürften die unmittelbaren ökonomischen Kosten durch die klimatischen Veränderungen […] mittelfristig recht gering bleiben”.

Bei einer Erderwärmung um 3 Grad gäbe es allerdings Schäden, die kaum als kalkulierbare und aufwiegbare Kosten erscheinen. Sie reichen von unbewohnbaren Landstrichen bis zu ungebremstem Artensterben und globalen Fluchtbewegungen. Daher hält Steve Keen fest, dass die relativ niedrigen monetären Kosten im 3-Grad-Szenario Konsequenz des mathematischen Modells sind, das die realen Gefahren des Klimawandels nicht abbildet. Die Darstellung des Klimawandels als Bedrohung für den gesellschaftlichen Wohlstand verschleiert die realen Vorgänge und Unberechenbarkeiten, die sich hinter Zahlen verbergen. Als notwendige Grundlage für das neoklassische Modell wird die Berechenbarkeit der Welt jedoch implizit vorausgesetzt.

Weitere Unzulänglichkeiten zeigen sich in der Behandlung von Kipppunkten. So bezeichnet die Klimawissenschaft Szenarien, in denen sich gegenseitig verstärkende Effekte zu unvorhersehbaren Entwicklungen führen. Diese werden im Bericht des Sachverständigenrats zwar erwähnt, der Umgang mit ihnen verbleibt aber in der Logik der Kosten-Nutzen-Rechnung. Diese ist für die Einschätzung komplexer Systeme unzureichend, da nur bepreiste Faktoren einfließen – Entwicklungen, die nicht monetär quantifizierbar sind, könnten hingegen nicht adäquat abgebildet werden.

 

Die Illusion der Berechenbarkeit

Trotzdem konstatiert das Gutachten, dass es im „rationalen Risikomanagement um die Absicherung gegenüber Tail Risks gehen muss”. Als Tail Risks werden in der Finanzwissenschaft gravierende Effekte bezeichnet, die aber nur mit sehr niedrigen Wahrscheinlichkeiten eintreten. Sie stellen quantifizierte und damit berechenbare Risiken dar und funktionieren in der Argumentation des Sachverständigenrats als volkswirtschaftliche Äquivalente zu Kipppunkten. Indem Kipppunkte als Tail Risks verstanden werden, wird die Illusion der vollständigen Berechenbarkeit und Steuerbarkeit planetarer Dynamiken aufrechterhalten.

Augenscheinlich hat der Sachverständigenrat nicht verstanden, was selbige ausmacht. Kipppunkte zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Konsequenzen eben nicht plan- oder berechenbar, wohl aber irreversibel sind. Maja Göpel von Scientists for Future fordert daher, die Risikohierarchie umzukehren und die Abwendung des Erreichens von Kipppunkten zur Maxime politischen Handelns zu machen. Das erscheint nicht notwendig, wenn Kipppunkte als Tail Risks verstanden werden, die in der Rechnung berücksichtigt werden können. So wird die Illusion der vollständigen Berechenbarkeit und Steuerbarkeit planetarer Dynamiken aufrechterhalten.

Diese fatale Fehleinschätzung ist jedoch nicht allein als Versagen des Sachverständigenrates zu bewerten, sondern spiegelt gängige Praktiken der Umweltökonomik wider. In der Logik mathematischer Modelle werden von fundamentalen Unsicherheiten geprägte Entwicklungen als Risiken betrachtet, deren mögliches Eintreten mit Wahrscheinlichkeiten versehen wird. Die Illusion der Berechenbarkeit führt zudem oft zu der Annahme, dass auch eine Steuerung möglich wäre. Wie oben mit Bezug auf die Kipppunkte ausgeführt, ist dieser Rückschluss falsch. Trotzdem liegt er Vorschlägen aus dem Bereich des Geoengineering zugrunde. Dabei handelt es sich um großtechnologische Lösungen zur Steuerung des Weltklimas, die sowohl vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) als auch dem Sachverständigenrat einbezogen werden. Jeremy Baskin führt aus, dass selbige mit nicht kalkulierbaren Risiken verbunden sind, politische auf technologische Fragen reduzieren und autoritäre Politiken rechtfertigen.

Zur Vermeidung von Kipppunkten schlägt der Sachverständigenrat einen Emissionshandel vor und begründet dies so: „Für eine Mengensteuerung spräche zudem, wenn damit Kipppunkte […] vermieden werden könnten.” Das ist richtig. Jedoch zeigt sich im Glauben an die Wirksamkeit dieses Systems, das von den Sachverständigen auf EU-Ebene als „funktionierend“ eingestuft wird und doch seit Jahren nicht vermag, Emissionen ausreichend einzudämmen, eine weitere fatale Konsequenz des ökonomischen Denkens.

Im Modell funktioniert der Emissionshandel wie im Gutachten gefordert. In der Realität sieht das anders aus, weil wirtschaftliche Interessen das Handeln politischer Akteur:innen beeinflussen und also mehr Zertifikate gehandelt werden als benötigt. Kein Wunder, dass der momentane Preis für eine Tonne CO2 bei ungefähr 26 Euro liegt, obwohl der Schaden auf 180 Euro geschätzt wird. Eine relevante Frage im Hinblick auf den Klimaschutz ist also, wie sichergestellt werden kann, dass Lobbyinteressen zuverlässig eingedämmt werden können. Das reine Modelldenken ignoriert dagegen die politischen Realitäten und zieht sich auf eine nur augenscheinlich neutrale Berater:innenposition zurück.

 

In der Klimapolitik nichts Neues

Der tragische Zustand der VWL, der angesichts planetarer Krisen offensichtlicher wird als je zuvor, steht im Kontext eines gesellschaftlichen Klimas, in dem Alternativen zur bestehenden Wirtschaftsweise nicht mehr vorstellbar sind. Der britische Theoretiker Mark Fisher prägte dafür den Begriff des kapitalistischen Realismus, dessen Essenz er so zusammenfasst: „Es ist heute einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.” Die dominanten Strömungen der deutschen VWL verbleiben in einer Modellwelt, in der Klimafolgen zu berechenbaren Risiken werden und politische Realitäten und Machtinteressen ausgeblendet bleiben.

Das Problem liegt also nicht in einem mangelnden Bewusstsein für Probleme wie die Klimakatastrophe. Vielmehr können wir Alternativen zum gesellschaftlichen Status Quo nicht mehr denken. Es könnte die Rolle der Wissenschaft sein, Annahmen und Denkstrukturen, die die kollektive Vorstellungskraft behindern, explizit zu machen und so zur besseren gesellschaftlichen Entscheidungsfähigkeit beizutragen. Stattdessen reproduzieren große Teile der VWL durch den Anschein von Objektivität, Rationalität und Exaktheit einen limitierten Diskursrahmen, in dem nur marktwirtschaftliches Denken als realistisch anerkannt wird.

Neue Ansätze zur Lösung der Klimakrise sind also von den dominanten Strömungen der VWL nicht zu erwarten. Stattdessen verbleiben diese in einer Modellwelt, in der katastrophale Klimafolgen zu berechenbaren Risiken werden und politische Realitäten und Machtinteressen ausgeblendet bleiben. In der Folge werden konkrete Fragen, etwa nach der Umgestaltung des Verkehrssystems und einem ökologischen und global gerechten Ernährungssystem, gar nicht erst gestellt. Die implizite Antwort bleibt: Der Markt wird es richten.

 

Zu den Autor:innen

Katharina Keil studiert im Master Socio-Ecological Economics and Policy an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie interessiert sich für ökologische Makroökonomik und engagiert sich für Klimagerechtigkeit und plurale Ökonomik.

Max Wilken studiert im Master Ökonomie an der Cusanus Hochschule und ist Vorstand im Netzwerk Plurale Ökonomik. Er interessiert sich für politische Ökonomie und beschäftigt sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft.

 

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