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„Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ – dieses Stichwort hat in den letzten Jahrzehnten die Arbeitsmarktpolitik weltweit bestimmt. Ziel dessen ist es üblicherweise, den in Bedrängnis sich wähnenden Unternehmen mit einer politischen Förderung sogenannter „atypischer Beschäftigungsverhältnisse“ (Leiharbeit, befristete Anstellungen, Freiberuflichkeit, Pendeln) entgegenzukommen. Tatsächlich handelt es sich aber oftmals um eine Prekarisierungsspirale (Standing 2015): Weil auch althergebrachte Branchen zunehmend unter dem Konkurrenzdruck aus der sogenannten „New Economy“ leiden, wird ihr wirtschaftlicher Niedergang durch eine Lockerung des Arbeitsrechts („Flexibilisierung“) auf dem Rücken von Arbeitnehmer*innen ausgetragen. Das kann auch zu mehr Selbstbestimmtheit in Arbeitsverhältnissen führen, aber üblicherweise mündet es vor allem in der Umgehung sozio-ökonomischer Errungenschaften aus Arbeitskämpfen.
Dabei hat sich eine Tendenz der Kreativ- und Wissensbranche auch in anderen Feldern gezeigt, wenn sie nicht mittlerweile selbst zur Wissensarbeit geworden sind: Arbeit wird mit zunehmender technologischer Entwicklung nicht etwa leichter oder weniger, sondern vor allem kommunikativer (Gregg 2011). Arbeit entgrenzt sich darin auf drei Weisen: 1.) zeitlich, das heißt, sie wandert zunehmend in die Bereiche der „Freizeit“ ein, wird mit der ständig verlangten und mit Smartphone auch möglichen Verfügbarkeit und der Orientierung hin zur projektbasierten Arbeit jederzeit drängend. Arbeit entgrenzt sich 2.) auch räumlich: Im Urlaub und von Zuhause aus kann und wird insbesondere in der „knowledge economy“ gearbeitet. Und 3.) entgrenzt sich Arbeit auch sozial: Die Umwendung vieler Arbeitsformen von hierarchischen zu teamorientierten Strukturen führt nicht nur dazu, dass Arbeitsverhältnisse selbst intimer und freundschaftlicher werden, mehr denn je auf Netzwerke und soziale Vernetzung setzen, sondern auch ins Innere („die Psyche“) wandern und ganze Persönlichkeiten (manchmal bis zum Burn-Out) einfordern. Dabei muss man jedoch festhalten: Nicht die Arbeit entgrenzt sich, sondern sie wird entgrenzt. Das Kalkül dahinter besteht wie eh und je in einer Steigerung der Produktivität, und diese wird heute gesteigert durch mehr Intensität in den Arbeitsbeziehungen und entsprechend eingerichtete Arbeitsumgebungen und Managementstile. Das unternehmerische Selbst hilft ihnen freilich dabei (Bröckling 2007).
Aber nicht nur der Arbeitsmarkt steht unter Druck, auch der Sozialstaat. Seit den 1970er Jahren, als es zu einem Ende des kriegsbedingten Wirtschaftsaufschwungs kam (Piketty 2016), als es auch zu den ersten großen Ölkrisen, der sogenannten Stagflation (also einem Preisanstieg/Wertverfall und einer Wirtschaftsflaute gleichzeitig), dem Rückgang der Schwerindustrie in den sogenannten „Industrienationen“ kam, stieg auch die Staatsverschuldung in vielen Ländern in neue Höhen. Eine Lösung, die insbesondere von neoliberalen Think Tanks und Ökonom*innen beworben wurde, bestand in einer „Liberalisierung“ des Finanzmarktes (Epstein 2005). Mit einer Vereinfachung des Wirtschaftsrechts, der Aufhebung von Vorschriften und Lockerung von Regulierungen von Banken und Börse sollte ein dynamischer und sich selbst regulierender Markt geschaffen werden, der auch mit den zunehmend globalisierten und technisierten Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts mithalten können sollte – oder jedenfalls wurde diese Re-Regulierung des Finanzmarktes (Mirowski 2013) mit diesem Argument an die Politik verkauft. Die Folge dessen: Es kam zu einer immer weitreichenden Ausweitung des Finanzmarktes, der nicht nur immer komplexere und undurchsichtigere Finanzprodukte hervorbrachte, die selbst noch abgelegene Regionen in China, Nahrungsmittel oder das Wetter betreffen können. Sondern auch die Struktur der Institutionen, die den Finanzmarkt betreiben, konnte sich ändern: So wurden beispielsweise Banken nicht mehr getrennt in Investment- und Geschäftsbanken, Kartellbildung wurde leichter und Akteure wie Ratingagenturen wurden immer wichtiger.
Zugleich zeigt sich in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, dass Kapital mehr denn je auch die Grenzen des (Rechts-)Staates umgehen kann: Wie u.a. die „Panama Leaks“ gezeigt haben, lässt sich Kapital derart über Steueroasen abwickeln, dass Steuern im großen Maße umgangen werden können. Aber nicht nur Steuern, sondern auch Immobilienkäufe und Datenschutzfragen lassen sich leicht umgehen und Subventionen abgreifen, wenn Briefkastenfirmen und Ansiedlungen von Tochterfirmen eingesetzt werden. Gleichzeitig unterbieten sich Staaten, Regionen und Städte gegenseitig in Angeboten wie Steuervergünstigungen und Grundstücksübermittlung, um global agierende Unternehmen anzulocken. Deren Mobilität ist gerade im Bereich der „New Economy“ sehr hoch, und ihre Verlagerung woanders hin eine immer präsente Drohung.
Nun könnte man davon ausgehen, dass der Liberalismus (als politische und ökonomische Tradition) nicht nur die Mobilität von Arbeit und Kapital eingefordert hätte, sondern auch für diejenigen von Menschen. Die Europäische Union scheint ein solches Resultat zu sein: Ist der Schengen-Raum nicht die Verkörperung des liberalen Ideals freien Waren-, Kapital- und Personenverkehrs schlechthin?
Tatsächlich zeigt sich auch schon in diesem Raum scheinbarer Bewegungsfreiheit, wie problematisch Bewegung in der globalisierten Welt eigentlich tatsächlich ist. Denn der Schengen-Raum hat, als er 1985 zum ersten Mal von den EG-Staaten (BRD; F, B, NL, LUX) diskutiert wurde, nicht bedeutet, dass Grenzen abgeschafft wurden. Vielmehr ging es darum, die Grenzkontrollen einzudämmen, zumindest innerhalb des Schengenraumes. Das Ziel war also nicht die Grenzenlosigkeit, sondern eine Verlagerung von Sicherheits- und Kontrollaufwand an die Außengrenzen. Zugleich entstanden für die „innere Sicherheit“ des Schengenraumes eine gemeinsame Einreise- und Asylpolitik, grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizeien und das Schengener Informationssystem, um das Privileg der Nicht-Kontrolle durch Informationsaustausch, polizeilicher Aufrüstung und grenznaher Versicherheitlichung zu kompensieren. Dabei wurden die Grenzräume zu umso wichtigeren Handlungsräumen für Polizei und Sicherheitsbehörden, die von der Öffentlichkeit wenig beobachtet werden (können). Bewegungsfreiheit (für die einen) war also nur gegen mehr „Sicherheit“ (sprich: Versicherheitlichung) und „migrational profiling“ (der anderen) zu haben. So haben der Großteil der EU-Mitgliedstaaten sowie andere europäische Länder den sogenannten Prümer Vertrag unterzeichnet, welcher “die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration" beschließt. Er legitimiert die automatisierte Weitergabe von persönlichen Daten sowie DNA und Fingerabdrücken von Menschen, die die Außengrenzen übertreten haben und erlaubt eine Weitergabe dieser Daten an alle Sicherheitsdienste europäischer Länder. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, in denen der “Krieg gegen den Terrorismus” schon seit George W. Bush als Begründung für verschärfte Grenzkontrollen und eine rigide Migrationspolitik dient, rückt das Phänomen Grenze auch in Europa immer stärker politisch in den Vordergrund, vor allem von rechtspopulistischen Kräften gepusht. Während führende Politiker*innen in Europa Trumps Vision einer Mauer verurteilen, unterstützen sie gleichzeitig die EU-Maßnahmen zur verschärften Kontrolle und Überwachung von Geflüchteten (beispielsweise durch die Vorhaben einer “Smart Border”) sowie die Errichtung von Zäunen, wie zum Beispiel in Ungarn, Österreich oder Spanien. Hinzu kommen verstärkte Kontrollen auch innerhalb der Schengen-Zone und abseits von Grenzgebieten, welche insbesondere nicht-weiße Menschen treffen und kriminalisieren (“racial profiling”).
Wenn wir also den Blick auf die Resultate des Liberalismus im 21. Jahrhunderts lenken, dann lässt sich also festhalten: Globalisierung schreitet nicht einfach immer weiter voran und reißt Grenzen nieder oder erweitert Freiheiten. Der Liberalismus hatte sich schon immer mit einem nationalistischen Grundton umgeben (so ging es zwar um die Freiheit der Einzelnen, aber nur innerhalb nationalstaatlichen Denkens, wo der Wettbewerb der Nationen als der wichtigste Schlüssel von Wohlstand galt). Der Neoliberalismus hat aus der liberalen Forderung nach Freiheit (der Einzelnen, um frei tauschen zu können) den Wettbewerb der Einzelnen (und die Notwendigkeit von Wettbewerbsdruck, damit sie machen) gemacht. Wenn heute also auch noch der Freihandel in Frage steht (wie das mit neo-protektionistischen Politiken der Fall zu sein scheint), so ist das keineswegs ein Widerspruch zur liberalen oder neoliberalen Tradition. Vielmehr scheint es da Hand in Hand von Wettbewerb der Nationen und der Einzelnen zu geben.
Die Stickeraktion wurde von der Gruppe Was ist Ökonomie? initiiert und für das Netzwerk Plurale Ökonomik erstellt. Vielen Dank für die finanzielle Unterstützung des Projekts an das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.
1. Wann kommt die nächste Krise, Herr Professor*?
2. Grenzenloses Kapital? Grenzenlose Arbeit? Grenzenlose Freiheit?
3. Markt United vs. FC Staat: Wer gewinnt?
5. Ein Ökonom kommt in eine Krise: Was tut er?
6. Mit neuem Nationalismus aus der Wirtschaftskrise?
7. Mit Green Growth die Welt retten?
9. Hat Griechenland Schuld(en)?
10. Wie viele Theorieschulen gibt es eigentlich in der VWL?
11. Werde ich durch das VWL Studium egoistischer?
12. Ist der repräsentative Agent männlich oder weiblich?
13. Was ist mit ökonomischen Inhalten, die nicht in Matheformeln passen?
14. Wieso sehen meine VWL-Professor*innen auch dort Gleichgewichte, wo keine sind?
15. Hat Geld wirklich keinen Einfluss auf die reale Wirtschaft?
16. Wieso nimmt mein VWL-Professor andere Sozialwissenschaften nicht ernst?
17. Wie funktionieren eigentlich andere Wirtschaftssysteme?
18. Warum sind meine VWL-Professoren fast nur männlich?
19. Wieso kennen meine VWL-Modelle keine Geschichte?
20. Studiere ich VWL oder Neoklassik?
Basham, Victoria M., and Nick Vaughan-Williams (2013) Gender, race and border security practices: A profane reading of ‘muscular liberalism’. The British Journal of Politics and International Relations 15(4), 509-527.
Bröckling, Ulrich (2007) Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Suhrkamp, Frankfurt.
Buckel, Sonja and Jens Wissel (2010) State project Europe: The transformation of the European border regime and the production of bare life. International Political Sociology 4(1), 33-49.
Cohn, Jeffrey P. (2007) The environmental impacts of a border fence. BioScience 57(1), 96.
Epstein, Gerald A. (2005) Financialization and the World Economy. Edward Elgar, London.
Gregg, Melissa (2011) Work's Initimacy. Polity Press, Cambridge.
Mirowski, Philip (2013) Never Let a Serious Crisis Go to Waste: How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown. Verso, London.
Piketty, Thomas (2016) Das Kapital im 21. Jahrhundert. C.H. Beck, München.
Standing, Guy (2015) Prekariat. Die neue explosive Klasse. Unrast-Verlag, Münster.
Rygiel, Kim (2011) Bordering solidarities: Migrant activism and the politics of movement and camps at Calais. Citizenship Studies 15(1), 1-19
Van Houtum, Henk (2010) Human blacklisting: the global apartheid of the EU's external border regime. Environment and Planning D: Society and Space 28(6), 957-976.