Der erstarrte Blick - Eine erkenntnistheoretische Kritik der Standardlehrbücher der Volkswirtschaftslehre

Silja Graupe
Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie, 2016
Niveau: débutant
Sujet: Réflexion sur l'économie
Format: Journal Article & Book Chapter
Lien: http://fgw-nrw.de/fileadmin/user_upload/Blinde_Flecken_der_Lehrbuchoekonomie_klein.pdf

Der erstarrte Blick - Eine erkenntnistheoretische Kritik der Standardlehrbücher der Volkswirtschaftslehre
 

Silja Graupe

Quelle: van Treeck, Till, and Janina Urban. Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie. iRights Media, 2016. Das Buch kann hier bestellt werden: http://irights-media.de/publikationen/wirtschaft-neu-denken/.

 

Rezensierte Bücher:

Mankiw, N.G. (2001): Principles of Economics, 2. Auflage, Boston: Cengage Learning, 493 Seiten. Im Folgenden zitiert als GM. (Abb: Cengage Learning; Abb. zeigt die 7. Auflage)

Mankiw, N.G./Taylor, M. (2008): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1013 Seiten. Im Folgenden zitiert als MTa.(Abb: Schäffer-Poeschel)

Mankiw, N.G./Taylor, M. (2012): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 5. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1133 Seiten. Im Folgenden zitiert als MTb. (Abb: Schäffer-Poeschel)

Samuelson, P. (1955): Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage, Köln: Bund-Verlag, 809 Seiten. Im Folgenden zitiert als PS. (ohne Abb.)

Samuelson, P./Nordhaus, W.D. (2009): Economics, 19. Auflage, New York: McGraw-Hill, 715 Seiten. Im Folgenden zitiert als SNa. (ohne Abb.)

Samuelson, P./Nordhaus, W.D. (2010): Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, München: mi-Wirtschaftsbuch, FinanzBuch Verlag, 1104 Seiten. Im Folgenden zitiert als SNb. (Abb: mi-Wirtschaftsbuch)

 

Hinführung

Spätestens seit dem Ausbruch der anhaltenden Wirtschafts-, Währungs-, Finanz- und Schuldenkrisen in den Jahren 2008 und 2009 mehren sich weltweit die Zweifel von Studierenden an der Volkswirtschaftslehre (VWL): Diese sei in extremem Maße einseitig, weltfremd und indoktriniere zudem (vgl. etwa ISIPE 2014). Die Kritik richtet sich gegen ein weltweites Phänomen. Denn in den letzten Jahrzehnten ist die Volkswirtschaftslehre an Hochschulen (und zunehmend auch an Schulen) in einem Maße standardisiert worden, das für die Sozialwissenschaften einmalig ist. Von Südafrika bis Norwegen, von Japan bis Kanada: Überall ähneln sich Form und Inhalt der ökonomischen Lehre. Die ökonomische Bildung gleicht global in zunehmendem Maße einer geistigen Monokultur (vgl. Graupe 2013, 2015).

Bei der Etablierung und Verbreitung dieser Monokultur spielen ökonomische Lehrbücher eine zentrale Rolle. In über vierzig Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft, bestimmen ihre Autor_innen und Verlage, was Studierende rund um die Welt unter „Ökonomie“ verstehen lernen. Sie sorgen dafür, dass „die Struktur wirtschaftswissenschaftlicher Abschlüsse nahezu identisch an allen […] Universitäten“ ist, wie etwa Untersuchungen für Großbritannien und die USA zeigen (Wigstrom 2010, S. 1).1

Besonders bedeutsam sind dabei zwei Werke: „Economics“ von Paul A. Samuelson (seit 1985 gemeinsam herausgegeben mit William D. Nordhaus) und „Principles of Economics“ von N. Gregory Mankiw. Samuelsons Lehrbuch, 1948 zum ersten Mal erschienen, gilt als das Standardwerk, an dem sich alle anderen heutigen Lehrbücher orientieren. Insbesondere die Mikroökonomik lässt sich als Gebiet ansehen, „auf dem der Sieg der frühen Pädagogik von Samuelson nahezu vollständig ist und in dem sich die Überzeugungen der Ökonomen am wenigsten gewandelt haben“ (Skousen 1997, S. 138). Mankiws „Principles of Economics“ hat sich in den letzten Jahren zum internationalen Bestseller entwickelt. Auch und gerade an deutschen Universitäten nimmt dieses Lehrbuch des ehemaligen Wirtschaftsberaters von George W. Bush eine zentrale Stellung ein.

Im Folgenden werde ich skizzieren, wie diese beiden Lehrbücher die Wahrnehmungs- und Erkenntnisweise von Menschen einseitig prägen und hierfür ein stark verkürztes Wissenschaftsverständnis vermitteln. Dabei wird deutlich, dass dies nicht allein ein Problem des akademischen Elfenbeinturms ist. Im Gegenteil hat es praktische Wirkungen. Denn wie wir die Welt wahrnehmen lernen, bestimmt auch darüber, welche Handlungsoptionen wir in unserem Alltag und als Staatsbürger erkennen und ausüben können.

Eine Neudefinition der Wirtschaftswissenschaften

Sowohl dem Lehrbuch von Samuelson/Nordhaus als auch dem von Mankiw liegen eine ganz bestimmte Definition von Wirtschaftswissenschaft zugrunde. Diese schließt die multiperspektivische Betrachtung wirtschaftlicher Phänomene von vornherein aus. Samuelson schreibt in der 2. Ausgabe seines Lehrbuchs von 1955:

„Es gibt weder eine Wirtschaftstheorie für Republikaner noch eine für Demokraten, noch eine für Arbeitnehmer oder für Arbeitgeber. Hinsichtlich der grundlegenden Preis- und Beschäftigungszusammenhänge bestehen denn auch unter den Nationalökonomen heutzutage keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten mehr.“ (PS, S. 6)

Mankiw beschreibt dies ähnlich: Zwar seien „gewisse Meinungsverschiedenheiten unter Ökonomen unvermeidlich. Doch sollte man das Ausmaß der Uneinigkeit nicht überbetonen. In vielen Fällen haben Ökonomen einen einmütigen Standpunkt.“ (MTb, S. 40) Doch lässt sich von einer solchen Einmütigkeit tatsächlich mit Berechtigung sprechen? Mankiws rhetorische Beeinflussung besteht hier darin, die Wirtschaftswissenschaft nicht mehr über ihren Gegenstandsbereich (die Wirtschaft) zu definieren, um diesen dann aus unterschiedlichen oder gar widerstreitenden Perspektiven zu analysieren. Samuelson/Nordhaus und Mankiw identifizieren die Wirtschaftswissenschaft vielmehr stillschweigend mit einer einzigen Perspektive, von der aus sich alles in der Welt auf ökonomische Weise in den Blick nehmen lassen soll. Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, bedeutet in ihrem Sinne nicht, sich mit wirtschaftlichen Belangen aus Sicht verschiedener ökonomischer Schulen (der Neoklassik, des Keynesianismus, der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, des Marxismus etc.) zu beschäftigen, sondern sich von vornherein vornehmlich auf den Standpunkt einer dieser Schulen – vornehmlich der neoklassischen, gemischt mit keynesianischen Einflüssen – zu stellen und diesen als einzig wissenschaftlichen zu definieren.

Dies hat zumindest zweierlei Konsequenzen. Erstens: Da auf diese Weise fast alle ökonomischen Schulen beziehungsweise Strömungen per Definition als unwissenschaftlich gelten, scheint man ihnen in Lehrbüchern keinen Platz einräumen zu müssen. Zwar existieren unterschiedliche theoretische Ansichten über aktuelle Fragen der Wirtschaft, die dem von Samuelson/Nordhaus und Mankiw beschworenen „einmütigen Standpunkt“ fundamental entgegenstehen. Doch werden sie außerhalb der Grenzen des Wissenschaftlichen angesiedelt. So spricht Samuelson 1955 etwa im Hinblick auf Marx ausdrücklich von „einem schwarzen Schaf, das sich jenseits des Pferchs der klassischen Tradition stellte“ (PS, S. 12). Marx mag sich noch so offensichtlich mit Fragen der Wirtschaft beschäftigen, nach der Logik heutiger Lehrbücher zählt er nicht als Ökonom, eben weil er einen alternativen Standpunkt und damit eine andere Perspektive auf die Wirtschaft einnimmt. 2010 wird Marx bei Samuelson/Nordhaus noch nicht einmal mehr erwähnt, genauso ist es bei Mankiw.

Zweitens entgrenzt das spezifische Wissenschaftsverständnis der ökonomischen Lehrbücher den Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaft nahezu vollständig. Vereinfacht gesagt wirkt die Wirtschaftswissenschaft wie eine Brille, die im Laufe des Studiums allmählich die Wahrnehmungsfähigkeit von Studierenden beschränkt: Ist sie erst einmal fest vor deren geistigem Auge verankert, so müssen Studierende alles durch sie hindurch wahrnehmen. Ebenso wie durch die sprichwörtliche rosarote Brille alles rosarot wirkt, so erscheinen in den Lehrbüchern alles menschliche Handeln und alle gesellschaftlichen Bereiche auf spezifisch ökonomische Weise.2 Mankiw bringt dies in seinen „Vorbemerkungen für den Lehrenden“ unmissverständlich zum Ausdruck (MTa, S. VII):

„Volkswirte haben eine einzigartige Art und Weise die Welt zu betrachten, die man weitgehend in ein oder zwei Semestern erlernen kann. Mit dem vorliegenden Buch geht es mir darum, die volkswirtschaftliche Denkweise auf das größtmögliche Publikum zu übertragen und die Leser davon zu überzeugen, dass damit sehr Vieles aus der sie umgebenden Welt aufgehellt werden kann.“3

Samuelson und Nordhaus beschreiben den gleichen Sachverhalt folgendermaßen:

„Häufig erscheint uns die Ökonomie als eine endlose Abfolge immer neuer Rätsel, Probleme und Dilemmata. Doch es gibt, wie erfahrene Dozenten mittlerweile wissen, einige wenige Konzepte, die jedem wirtschaftlichen Geschehen zugrunde liegen. […] Wir haben daher beschlossen, uns auf die Kernthesen der Volkswirtschaftslehre zu konzentrieren – auf jene dauerhaften Wahrheiten, die im neuen Jahrhundert dieselbe Bedeutung haben werden wie im alten.“ (SNb, S. 10, Hervorhebung im Original)

Ökonomische Konzepte lassen sich wie „Werkzeuge des Denkens“ begreifen; sie geben unserer Wahrnehmung Richtung und Gestalt. Sie entscheiden darüber, was wir als wichtig und unwichtig erachten, oftmals bevor wir uns vor spezifische ökonomische Aufgaben gestellt sehen. Samuelson und Nordhaus postulieren, dass diese Werkzeuge des Denkens selbst einen Anspruch auf Wahrheit haben. Wer lernt, allein im Marktmodell zu denken, der wird in allen sozialen Beziehungen einen Markt erblicken. Nicht um die Darstellung objektiver Fakten geht es hier, sondern um die Beschränkung unserer Wahrnehmungsfähigkeit auf wenige, vermeintlich unveränderliche „Kernthesen“ (ebd.), die zur Lösung aller Probleme genutzt werden sollen.

„Die Beispiele und Anwendungen haben sich gewandelt, um sicherzustellen, dass es [Samuelsons Lehrbuch, Anm. der Autorin] in den Augen der Leser stets relevant und nützlich blieb. Der Kern der Theorie ist aber stets der gleiche geblieben.“ (Smith 2001, S. 6)

Ob Steuern, Mindestlöhne und Wohlfahrt (vgl. Mankiw 2001) oder Klimawandel und Emissionshandel (vgl. Samuelson/Nordhaus 2009): Sie alle dienen lediglich als reine Anwendungsbereiche einer im Vorhinein feststehenden ökonomischen Perspektive. Nicht aber sind sie dazu angelegt, die Grenzen dieser Perspektive zu erforschen oder Perspektivenwechsel angesichts konkreter Herausforderungen unserer Zeit vorzunehmen. Auf diese Weise fördern Samuelson/Nordhaus und Mankiw eine Standardisierung ökonomischer Erkenntnisfähigkeit, wie sie etwa auch der „Council for Economic Education“ in den Vereinigten Staaten fordert und an Schulen und Hochschulen gleichermaßen durchsetzt (vgl. etwa Siegfried et al. 2010).

Ökonomie als paradigmatische Lehrbuchwissenschaft

Weder Samuelson und Nordhaus noch Mankiw legen diese Standardisierung allerdings explizit offen, insbesondere nicht gegenüber den Studierenden. Im Gegenteil verwischt gerade Mankiw die Grenze zwischen realem Gegenstandsbereich einerseits und wissenschaftlicher Perspektive auf diesen Bereich oftmals bis zur Unkenntlichkeit. Die erkenntnistheoretisch wesentlichen Unterschiede zwischen Erkenntnisobjekt einerseits und Erkenntnisweise andererseits – zwischen wirtschaftlicher Wirklichkeit und Interpretation dieser Wirklichkeit – übergeht er. So erwähnt er zwar in seinen „Vorbemerkungen für den Lehrenden“ explizit, dass seine „zehn volkswirtschaftlichen Regeln“ das „Weltbild der Ökonomen“ darstellen, welches wiederum das erkenntnistheoretische „Fundament für den Großteil der volkswirtschaftlichen Analysen bilden“ soll (vgl. MTa, S. VIII). Doch gegenüber den Studierenden verschweigt er diese wesentliche Klarstellung. Allenfalls spricht er vage von „Leitvorstellungen“. Sodann präsentiert er diese aber so, als ob es sich um Abbilder realer Vorgänge handele. So lautet etwa seine „Regel Nr. 1“: „Alle Menschen stehen vor abzuwägenden Entscheidungen.“ (MTb, S. 4) Dass es sich hierbei um eine wissenschaftliche Hypothese über menschliches Verhalten handelt, erwähnt er ebenso wenig, wie er die Frage nach deren empirischer Überprüfbarkeit behandelt (siehe den Beitrag von Till van Treeck zum Menschenbild in diesem Band). Durch geschickt gewählte Beispiele4 leitet er das Denken dergestalt an, dass die Aufmerksamkeit auf einen hypothetischen Einzelfall gelenkt wird. Von diesem aus werden Studierende implizit verleitet, auf eine allgemeingültige Beschreibung von Wirklichkeit zu schließen.

Problematisch ist, dass Studierende nicht ermuntert werden, diesen Schluss zu reflektieren. Allgemeiner gesagt werden die Anweisungen der Lehrbücher, die das Denken zurichten und die Perspektive der Studierenden auf einen einzigen Standpunkt einzufrieren drohen, innerhalb dieser Lehrbücher selbst kaum konkret beschrieben. Thomas Kuhn, einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des letzten Jahrhunderts, kennzeichnet dieses Phänomen wie folgt: Wissenschaften, die sich über eine einzige „wahre“ Weltsicht identifizieren, führen Studierende nicht in die genauen Definitionen ihrer Konzepte und Theorien ein; deren Inhalt und Bedeutung wird vielmehr allein „durch Beobachtung und Teilnahme an der Anwendung dieser Begriffe bei Problemlösungen“ vermittelt (Kuhn 1976, S. 61).

„Wissenschaftler […] lernen Begriffe, Gesetze und Theorien niemals in abstracto und an sich. Vielmehr begegnet man diesen geistigen Werkzeugen von Anfang an innerhalb eines historisch und pädagogisch vorgegebenen Komplexes, der sie mit ihren Anwendungen und durch diese darbietet.“ (ebd., S. 60)

Was Kuhn am Beispiel der modernen Naturwissenschaften Mitte des letzten Jahrhunderts beschreibt, lässt sich heute auf die ökonomischen Lehrbücher übertragen: Kaum eine Studierende wird nach der Lektüre von Samuelson/Nordhaus oder Mankiw genau sagen können, wie sie „den Markt“ denkt, welche „Denkwerkzeuge“ sie hierfür in Gebrauch nimmt und mit welcher Begründung sie dies tut. Gleichwohl wird sie dazu verleitet, durch immerwährende Wiederholungen, die die gleiche Art der Problemlösung in variierbarer Komplexität erfordern, stets im Preis-Mengen-Diagramm zu denken und Gleichgewichtsmengen und -preise zu bestimmen, unabhängig davon, um welche Aufgabenstellung es sich konkret handelt. Ob Fragen zu Eiscreme, Weizen, Öl, Benzin, Miete, Lohn, Stahl, Aluminium, Bildung, Boden oder Kapital – stets geben die Lehrbücher vor, sie mit Hilfe dieses Diagramms lösen zu können.5 Was hingegen niemals in Frage steht, ist die Existenz der zugrunde liegenden funktionalen Zusammenhänge selbst. Ob „Angebotskurve“, „Nachfragekurve“, „Gleichgewichtspreis“: Studierende lernen, mit diesen „Denkwerkzeugen“ über alles in der Welt nachzusinnen, ohne sie selbst zu reflektieren und das dahinter liegende System von Denkregeln und Voraussetzungen in Frage stellen zu können.

Nochmals mit Kuhn gesprochen handelt es sich bei der ökonomischen Lehrbuchwissenschaft damit um eine paradigmatische Wissenschaft, die die Regeln ihrer eigenen Erkenntnisweise nicht offenlegt und sie gerade deswegen unter der Schwelle der bewussten Wahrnehmung als einzig mögliche zu verabsolutieren und zu zementieren droht.

Die Kennzeichen paradigmatischer ökonomischer Lehrbücher

Anhand von vier Punkten lässt sich der paradigmatische Zug der ökonomischen Lehrbücher näher charakterisieren:

Erstens sind Lehrbücher wie die von Samuelson/Nordhaus und Mankiw von einer nahezu vollkommenen Geschichtsvergessenheit geprägt. Ein kurzer Blick in die ideengeschichtlichen und historischen Ursprünge etwa des Preis-Mengen-Diagramms genügt, um zu verstehen, dass es auf einer hochgradig abstrakten, bewusst weltfremden, da an der reinen Mathematik orientierten Theorie – eben der neoklassischen – basiert, die zumal zur Zeit ihrer Entstehung im ausgehenden 19. Jahrhundert stark umstritten war (vgl. etwa Mirowski 1989). Doch an keiner Stelle finden sich bei Samuelson/Nordhaus oder Mankiw Hinweise auf Primärquellen oder die entsprechende Fachliteratur. Wenn diese Autoren überhaupt von Geschichte reden, dann nur in dem Sinne, wie es Kuhn allgemein beschreibt, in Form gelegentlicher Hinweise auf die „großen Helden eines früheren Zeitalters“ (Kuhn 1976, S. 149):

„Teils durch Auslese und teils durch Verzerrung werden die Wissenschaftler früherer Zeitalter ausdrücklich so dargestellt, als hätten sie an der gleichen Reihe fixierter Probleme und in Übereinstimmung mit der gleichen Reihe fixierter Kanons gearbeitet.“

Auf diese Weise wird keine Geschichte des ökonomischen Denkens vermittelt, die Studierende ermuntern könnte, die Art und Weise, wie die Lehrbücher ihr Denken zu formen versuchen, aus historischer Perspektive in den Blick zu bekommen – geschweige denn die Vielfalt möglicher anderer Perspektiven.

Zweitens leiten die ökonomischen Lehrbücher nicht dazu an, sich mit konkreten Phänomenen der Wirtschaft so auseinanderzusetzen, dass die vermittelten Erkenntnisweisen an ihnen überprüft werden könnten. Wie bereits erwähnt, konstruieren die Lehrbuchautoren zumeist lediglich Fallbeispiele, die das Gesagte plausibel erscheinen lassen, aber letztlich reine Gedankenexperimente darstellen. Selten hingegen versetzen sie die Studierenden in die Lage, solche Experimente tatsächlich an empirischem Datenmaterial zu überprüfen. Auch befähigen sie Studierende nicht, eigene widersprechende Erfahrungen als Ausgangspunkt für ein kritisches Hinterfragen fruchtbar zu machen. Vielmehr wird ihr kritischer Alltagsverstand systematisch geringgeschätzt. So vermitteln Samuelson und Nordhaus im Abschnitt über den „Marktmechanismus“ den Eindruck, die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft müssten jedem untrainierten Geist als „überraschend“, „erstaunlich“ oder gar als „Wunder“ erscheinen, denn die Funktionsweise des Marktes sei ein „enormes Durcheinander“ (vgl. SNb, S. 56).

Drittens vertreten Samuelson/Nordhaus und Mankiw ein hochgradig abstraktes Wissenschaftsverständnis, ohne dessen inhärente Problematik offenzulegen. Bei Mankiw heißt es (MTb, S. 23–24):

„Ökonomen bemühen sich, ihr Gebiet mit wissenschaftlicher Objektivität zu behandeln. Sie betreiben die Erforschung der Volkswirtschaft in ziemlich derselben Weise, wie ein Physiker die Materie und ein Biologe das Leben untersucht: Sie entwerfen Theorien, sammeln Daten und versuchen dann aufgrund der Daten, ihre Theorien zu bestätigen oder zu verwerfen. […] Das Wesentliche einer Wissenschaft ist jedoch die wissenschaftliche Methode – die leidenschaftslose Entwicklung und Überprüfung von Theorien darüber, wie die Welt funktioniert.“

Tatsächlich erhebt die neoklassische Theorie den Anspruch, eine Wirtschaftswissenschaft nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften zu sein. Wie diese erklärt sie die reine Mathematik zu ihrem Vorbild: Es geht ihr gerade nicht um eine immer genauere Beobachtung der Natur, sondern darum, ihre Theorien zunächst in einem Reich rein abstrakten Denkens – eben der reinen Mathematik – zu entwerfen, bevor sie diese in Bezug zur Wirklichkeit setzt. Erkenntnis soll hier a priorisch, das heißt, unabhängig von aller menschlichen Erfahrung konstruiert werden. Ob Nutzenmaximierung, Marktgleichgewicht oder Preismechanismus: Ihnen allen liegt der Versuch zugrunde, abstrakte Formeln der Physik auf die soziale Welt zu übertragen. Mit konkreten Beobachtungen wirtschaftlicher Phänomene hat ihre Entwicklung hingegen nichts zu tun. Aber diesen wichtigen Punkt verschweigen die ökonomischen Lehrbücher. Warum „Diagramme und Kurven […] als Werkzeuge für den Ökonomen genauso wichtig wie Hammer und Säge für den Zimmermann“ sein sollen (vgl. SNb, S. 45), darüber sagen die Lehrbuchautoren nichts. Studierende sollen sich diese abstrakten Werkzeuge aneignen und auf diese Weise „leidenschaftslos“ werden, ohne über deren hohen Abstraktionsgrad etwas zu erfahren oder ihn gar begründen zu lernen.

Viertens lernen Studierende nur einen geringen Ausschnitt wissenschaftlicher Praktik. Bei Mankiw heißt es zwar (MTb, S. 25):

„Die Kunst des wissenschaftlichen Denkens – ob in Physik, Biologie oder Nationalökonomie – besteht darin zu entscheiden, welche Annahmen man trifft.“

Doch zugleich setzt er den Studierenden die Grundannahmen seiner eigenen Wissenschaft als gegebene Regeln vor; eine Befähigung zu tatsächlicher Entscheidung findet am Beginn aller wissenschaftlichen Arbeit nicht statt, im Gegenteil. Zudem wird der Prozess wissenschaftlichen Denkens auch von seinem Ende her beschnitten, weil weder Samuelson/Nordhaus noch Mankiw ihre Leser_innen lehren, die abstrakten Erkenntnisse ökonomischer Modelle systematisch an der Wirklichkeit zu überprüfen. Was so an Wissenschaftlichkeit bleibt, ist lediglich jenes Diktum, das bereits der französische Begründer der neoklassischen Theorie, Léon Walras, prägte: Die ökonomische Theorie wird weder durch Beobachtung der Realität entwickelt noch an der Realität überprüft, sondern es werden lediglich die aus ihr gewonnenen Einsichten auf die Welt angewendet (Walras 1969, S. 70 ff.).

Das Gefahrenpotenzial ökonomischer Lehrbücher

Entscheidend ist, dass sich jene Erkenntnisse, die Studierende aus ökonomischen Lehrbüchern gewinnen, als zugleich vollständig weltfremd und hochgradig praxiswirksam erweisen können. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich A. Hayek schreibt (Hayek 1980, S. 100):

„Die Macht abstrakter Ideen beruht in hohem Maße auf eben der Tatsache, dass sie nicht bewusst als Theorien aufgefasst, sondern von den meisten Menschen als unmittelbar einleuchtende Wahrheiten angesehen werden, die als stillschweigend angenommene Voraussetzungen fungieren.“

Stellen Sie sich vor, Sie laufen im Dunkeln eine Straße entlang und entdecken auf ihr einen langen, dünnen Gegenstand. Sie erkennen ihn unwillkürlich als „Schlange“ und rennen weg. Bei genauerem Hinsehen hätten Sie erkennen können, dass es sich um ein harmloses Seil handelte. Doch hierzu kam es nicht, weil Ihre erste Vorstellung, obwohl faktisch falsch, Sie bereits zu einem konkreten Handeln veranlasst hatte. In der Folge werden Sie Ihr Bild von dem Gegenstand ebenso wenig verändern können wie Ihre Reaktion auf dieses Bild.

Hayeks Zitat macht darauf aufmerksam, dass es uns in Fragen der Wirtschaft ähnlich ergehen kann: Vermögen die ökonomischen Lehrbücher erst einmal feste Vorstellungen über den Menschen, über Gemeinschaften und über die Wirtschaft und Gesellschaft im Ganzen im Bewusstsein zu verankern, so können diese handlungsleitende Kraft ausüben – unabhängig davon, ob sie nun stimmen oder nicht. Zugleich wird deutlich, dass damit eine enorme Machtausübung verbunden sein kann. Denn wer Bilder über die Wirtschaft in den Köpfen von Millionen von Studierenden verankern kann – „to influence minds“, wie Samuelson es explizit nennt – vermag darüber auch indirekt deren je individuelle und gesamtgesellschaftliche Handlungsspielräume zu beeinflussen. Ökonom_innen, so stellte die New York Times bereits 1995 fest, „ergreifen immer mehr die Chance, den Geist [mind] der nächsten Generation politischer Führer, Geschäftsführer, Meinungsführer und anderer Mitglieder der […] Elite zu prägen [to mold]“ (Nasar 1995). Leser_innen sollten sich dieses Potenzials stets bewusst sein, wenn sie Lehrbücher wie die von Samuelson/Nordhaus und Mankiw in die Hand nehmen. Mankiw selbst jedenfalls wittert die Chance, Menschen durch seine Lehrbücher zu „besseren Staatsbürgern“ zu machen (MTa, S. VIII). Oder: „Wie der große Paul Samuelson es formulierte: ‚Solange ich volkswirtschaftliche Lehrbücher schreiben kann, kümmere ich mich nicht sehr darum, wer die Gesetze eines Landes schreibt oder die Staatsverträge ausarbeitet.‘“ (ebd.).

Literatur

Becker, G.S. (1990): The Economic Approach to Human Behavior, Chicago: Chicago University Press.

Graupe, S. (2013): Verstehen und Verständigung aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. In: Hamid R. Yousefi und Klaus Fischer (Hrsg.): Verstehen und Verständigung in einer veränderten Welt, Wiesbaden: Springer VS, S. 117–125.

Graupe, S. (2015): Ökonomische Bildung. In: Michael Spieker (Hrsg.): Ökonomische Bildung – Zwischen Pluralismus und Lobbyismus, Tutzinger Schriften zur Politischen Bildung, Band 8, Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 43–68.

Hayek, F.A. (1980): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 1, Landsberg am Lech: Verlag moderne Industrie.

International Student Initiative for Pluralism in Economics (ISIPE) (2014): An International Student Call for Pluralism in Economics, http://www.isipe.net/open-letter/ (Zugriff: 16. Mai 2016).

Kuhn, T.S. (1996): The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: Chicago University Press.

Nasar, S. (1995): A Hard Act to Follow?, New York Times, 14.03.1995, http://www.nytimes.com/1995/03/14/business/a-hard-act-to-followhere-goes.html?src=pm (Zugriff: 16. Mai 2016).

Skousen, M. (1997): The Perseverance of Paul Samuelson’s Economics. In: Journal of Economic Perspectives 11, Nr. 2, S. 137-152.

Smith, L.M. (2001): Samuelson’s Economics through Fifty Years, Discussion Paper Nr. 01.09, Massey University, Department of Applied and International Economics.

Walras, L. (1969): Elements of Pure Economics, London: Routledge.

Wigstrom, C.W. (2010): A Survey of Undergraduate Economics Programmes in the UK, https://ineteconomics.org/uploads/downloads/existing_undergrad_econ_curriculum_UK.pdf (Zugriff: 16. Mai 2016).

1Alle Übersetzungen aus dem Englischen in diesem Text stammen von mir.

2Im Hintergrund steht hier das Wissenschaftsverständnis des „ökonomischen Imperialismus“, wie ihn insbesondere die Chicago School of Economics geprägt hat. So geht deren Begründer und Hauptvertreter Gary S. Becker davon aus, dass sich alles menschliche Verhalten aus Sicht des „economic approach“ beschreiben lässt. Vgl. Becker 1990.

3Interessanterweise fehlt diese entscheidende Passage in den „Vorbemerkungen für Studierende“. Dazu unten mehr.

4„Denken wir an eine Studentin, die ihre wertvollste Ressource verteilen muss – ihre Zeit.“ (Mankiw 2008, 4); „Oder denken wir an die Eltern der Studenten, die über ihre Verwendung ihres Familieneinkommens entscheiden“ (ebd.)

5Alle Beispiele sind entnommen aus Mankiw 2008.

 

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