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Autor: Manuel Schulz
Review: Anja Breljak und Felix Kersting
Dies ist ein Essay aus der Schreibwerkstatt "Varietes of Mainstream Economics?", veröffentlicht am 18. Dezember 2019.
1 Einleitung
Das vorliegende Essay verfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem normativen Selbstverständnis der Verhaltensökonomik. Diese Subdisziplin der Wirtschaftswissenschaften hat sich zum Ziel gesetzt, die Mannigfaltigkeit menschlicher Verhaltensweisen in den Fokus ökonomischen Denkens zu rücken. Die einigermaßen späte Entdeckung „nicht rationaler“ Verhaltensweisen als ökonomisch relevante Analysekategorie sorgte seit den 1970er Jahren für geradezu euphorische Selbststilisierungen aus den Reihen der Verhaltensökonomik. Ihren rhetorischen Höhepunkt scheint die zugrunde liegende Entwicklung dabei offensichtlich im Anspruch einer „Humanisierung der Ökonomik“ zu finden, wie ihn Robert Shiller (2014) formuliert (ich komme darauf zurück). Dieses Selbstbild, dass der Humanismus bzw. der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit nun die entscheidende normative Grundlage für das ökonomische Denken sei, soll in diesem Essay kritisch hinterfragt werden.
Hierzu werde ich im Folgenden immer wieder auf das spannungsvolle Verhältnis von ökonomischem Institutionensetting und menschlichem Verhalten zurückkommen. Es sind diese beiden Pole von menschlichem Subjekt und ökonomisch-institutioneller Rahmengebung, die im Mittelpunkt verhaltensökonomischer Betrachtungen stehen. Gerade anhand der Frage, welcher dieser beiden Pole als maßgeblich veränderbar gilt und dementsprechend zu steuern sei, kann der normative Kern der hier im Mittelpunkt stehenden Subdisziplin herausgearbeitet werden. Mit diesem Vorgehen entwickle ich im Folgenden die These, dass der Verhaltensökonomik, wie sie insbesondere von prominenten Akteuren wie z. B. Cass Sunstein, Richard Thaler oder Robert Shiller vertreten wird, dabei eine fatale Fehleinschätzung ihrer normativen Selbstverortung unterläuft. Letztlich, so wird zu zeigen sein, ist es gerade nicht das Ziel der Verhaltensökonomik, Märkte oder andere wirtschaftliche Institutionen nach humanistischen Gesichtspunkten zu gestalten. Vielmehr schält sich im Verlauf dieses Essays eine normative Selbstverklärung der Verhaltensökonomik heraus, der ich mit der gegenläufigen Diagnose einer ökonomistischen Humanität entgegentreten möchte. Dies wird deutlich, sobald man analytisch trennscharf auseinanderhält, welches der beiden Konzepte „Humanismus“ und „Ökonomie“ zum wertenden Maßstab gegenüber dem jeweils anderen wird. Es handelt sich bei diesem kategorialen Widerstreit um eben jenes Spannungsverhältnis von menschlichem Subjekt und institutionellem Setting, welches ich als leitende Perspektivierung in diesem Essay anlege. Statt einer humanistischen Ökonomik, also einem Wirtschaftssystem, welches sich maßgeblich an der Verfasstheit des Menschen orientiert, kristallisiert sich so im Laufe der Betrachtungen ein Konzept ökonomistischer Humanität als ideologische Fundierung der Verhaltensökonomik heraus.
Dabei handelt es sich gewissermaßen um das genaue Gegenteil einer humanistisch gestalteten Wirtschaft. Die Verhaltensökonomik, so die These, versucht gerade nicht, wirtschaftliche Institutionen an einem menschlichen Ideal auszurichten. Im Gegenteil geht es vielmehr darum, die Vielfalt menschlicher Subjekte durch gezielte verhaltensökonomische Steuerung einzuhegen und an das (unhinterfragte) Institutionensetting „Markt“ anzupassen. Dabei sind es gerade die diskursiv erzeugten Annahmen über ökonomische Rationalität und Normalität, die den Menschen in seiner Vielfalt zu einem problematischen und paternalistisch zu steuernden Wesen degradieren. So entwirft die Verhaltensökonomik, wie wir sehen werden, eine Art politisch anwendbaren Wirkverstärker, der dazu beiträgt, rationale Markthandlungen gegen die Vielfalt menschlicher Regungen in Schutz zu nehmen, erstere gewissermaßen gegen letztere zu imprägnieren. Damit sind wir allerdings weit von den Idealen eines aufgeklärten Humanismus mit seiner leitenden Vorstellung des vernunftbegabten und autonomen Subjektes entfernt. Humanismus oder Humanisierung auf diese Weise verkürzt verstanden, so möchte ich argumentieren, verkehrt die „Humanisierung der Ökonomie“ in eine Ökonomisierung der Humanität. Zur Verdeutlichung dieser These werde ich abschließend die verhaltensökonomischen Steuerungsabsichten mit dem, freilich utopischen, Konzept eines tatsächlich humanistischen Wirtschaftsmodells aus den Marxschen Frühschriften kontrastieren.
2 Die diskursive Erzeugung von Verhaltensnormen als zwanglose Übergriffigkeit
Die Entstehung der Verhaltensökonomik seit den 1970er Jahren kann gewissermaßen als Reaktion auf die Kritik an einer Art „Modell-Platonismus“ (Albert 1967: 331 ff.) der Neoklassik verstanden werden. In diesem Kontext möchte ich mich der Auffassung des renommierten Verhaltensökonomen Mathew Rabin (2002: 657 ff.) anschließen. Er betont, dass der seither um sich greifende „psychological realism” zwar immer noch um binnendisziplinäre Anerkennung ringt, sich jedoch langsam, aber sicher als ein Teil der „Mainstreamforschung“ herauskristallisiert. „While still controversial, behavioral economics is on the verge of ‘going mainstream’ […]” (ebd.: 658). Und nicht nur das, viel mehr betont er, “[…] that this research is not an alternative to the economic research program into which we were all socialized in graduate school, but the natural continuation of this research program.” (ebd.: 659).
Diese „natürliche“ Fortsetzung der Ökonomik bedarf aufgrund ihres zunehmenden politischen Gestaltungsanspruches jedoch einer legitimatorischen Grundlage. Es gilt an dieser Stelle dementsprechend zunächst herauszuarbeiten, wie dieses Legitimationsmuster verhaltensökonomischer Steuerung diskursiv erzeugt wird. Wir werden dabei sehen, dass sich im Rahmen des „psychologischen Realismus“ nicht die normativen Zielvorgaben, sondern nur deren Durchsetzungstechniken im Sinne einer effektiven Verhaltenssteuerung verfeinert haben.
Um dies zu verdeutlichen ist es hilfreich, einen detaillierteren Blick auf die Genese der Bewertungskriterien empirisch beobachtbarer menschlicher Verhaltensweisen zu werfen. Kategorien wie „normal“, „rational“ oder „gesund“ sind keineswegs für sich stehende Gütekriterien, sondern bewegen sich stets im Kontext historischer Wandlungs- und Machtprozesse. Entgegen des proklamierten Naturalismus rationaler Nutzenmaximierung als anthropologischer Konstante[1] zeigt ein diskursanalytischer Blick, dass in die zunächst normativ ungeteilt vorgefundene Vielfalt von menschlichen Verhaltensweisen eine normative Trennlinie eingezogen wird. Letztere ist überhaupt erst die differenzlogische Voraussetzung, um in „rational“ und „irrational“ unterscheiden zu können. Im Kontext einer wissenssoziologisch informierten Diskursanalyse betont Judith Mehta (2013) den historischen Kontext, in welchem sich mittels gewachsener Diskursstrukturen Vorstellungen von „Normalität“ und Abweichungen von derselben herausbilden. Sie beschreibt die Rolle des Diskurses in diesem Kontext wie folgt:
“[I]t determines what constitutes rationality and bounded rationality based on shared ideas about what is and is not deemed to be normal, acceptable or desirable in decision making. These organisational categories do not reflect a fixed, objective reality but the historically contingent set of values, beliefs, attitudes and concerns of the discourse community […]. Viewed in this way, the entities themselves are clearly political constructs, as is the relation between entities.” (Mehta 2013: 1252)
Vor dem Hintergrund dieser diskursanalytischen Perspektivierung wird deutlich, wie die normative Messlatte für menschliches Verhalten in seiner empirischen Mannigfaltigkeit selbst ein polit-ökonomisches Konstrukt darstellt. Und schließlich wird alles, was sich nicht „positiv“ in diese so generierte Normstruktur einbettet, diskursiv pathologisiert und abgewertet. So zeigt Mehta (2013: 1253), wie die Nicht-Standard-Verhaltensweisen in den von ihr untersuchten wirtschaftstheoretischen Diskursen als „beschränkte“ Rationalität von „Idioten“ bezeichnet werden. Solche (diskursiv erzeugte) „Idiotie“ ruft schließlich selbsternannte Therapeut*innen aus den Reihen der Verhaltensökonomik auf den Plan (z. B. Loewenstein und Haisley 2008). Geht man davon aus, “[…] that people cannot be relied upon to pursue self-interest […]” (ebd.: 5), ist es völlig klar, dass verhaltenstherapeutische Maßnahmen von Seiten ökonomischer „Therapeut*innen“ dringend erforderlich sind. Die Diagnose lautet: “self-control problems” (ebd.: 7). Ausweglose Behandlungsstrategie: „paternalism” (ebd.)
Judith Mehta (2013) rekonstruiert in der oben zitierten Studie, wie das Abweichen von ökonomischem Standardverhalten in ökonomischen Diskursen auf mangelhafte Bildung, Naivität, emotionale und kognitive Defizite, ungenügende Selbstkontrolle oder planerische Kurzsichtigkeit zurückgeführt werden. Zu betonen ist dabei, dass sich das so erzeugte Set an „normalen“ und „gesunden“ Verhaltensweisen auch in der Verhaltensökonomik ungebrochen am Homo Oeconomicus orientiert, ihn im Umkehrschluss geradezu konstituiert. Ulrich Bröckling betont in diesem Zusammenhang:
„Verhaltensökonomen bleiben Ökonomen. Die Rationalitätsnorm der Kosten-Nutzenmaximierung steht nicht zur Disposition, ja, sie liefert den Maßstab, um die systematischen Abweichungen überhaupt identifizieren zu können.“ (Bröckling 2017: 184)
Diese Erkenntnisse über systematische Abweichungen von einem Verhalten, das als rational klassifiziert wird, werden dann genutzt, um eine gezielte und kontextspezifische Entscheidungsarchitektur zum Zwecke der Verhaltenssteuerung zu entwerfen (z. B. Shiller 2014: 1506; Sunstein 2014: 584). Der Homo Oeconomicus wird auf diese Weise nicht mehr als das erwartbare Verhalten angenommen, sondern viel mehr den Subjekten als Zielvorgabe in deren Handlungsabsichten untergeschoben. Das Suggestive an diesem Ansatz besteht dabei gerade in der Argumentationslinie, dass die Techniken der Verhaltenssteuerung in letzter Konsequenz ja nur dem Einzelnen helfen sollen, seine oder ihre eigenen Interessen zu verwirklichen. Es geht bei dieser einseitig abgeschlossenen Zielvereinbarung um eine Art Empowerment des Subjektes, diejenigen Ziele zu erreichen, die es verfolgen würde, wenn es nur lange und gründlich genug darüber nachgedacht hätte[2]. Gerardo Infante et al. (2016: 1) bringen es auf den Punkt, indem sie konstatieren, dass hier ein dualistisches Verständnis menschlicher Subjekte evoziert wird, „[…] in which an inner rational agent is trapped inside a psychological shell.“ Und selbstverständlich ist aus verhaltensökonomischer Sicht gerade die „psychological shell“ das zu problematisierende „Gefängnis“ eines „gesunden“, weil „rational“ sich verhaltenden Menschen. Solche diskursiven Aufladungen stellen die kaum zu überschätzende Grundlage für das normative Selbstverständnis der Verhaltensökonomik dar. Die Techniken der Verhaltenssteuerung bewegen sich dementsprechend in einem höchst sublimen Spannungsfeld von ideologischer Zudringlichkeit und gesellschaftlicher Legitimität. Die „Sorge“ um die Qualität des subjektiven Handelns geht mit der an Übergriffigkeit grenzenden Introjektion von Verhaltensabsichten einher. Frei nach dem Motto: Rationale Eigennutzmaximierung liegt in deinem Interesse. Und tut sie es nicht, so weißt du es nur nicht. Leugnest du sie, beweist dies nicht, dass du andere Absichten verfolgst, sondern lediglich, dass du dumm, ungebildet oder ein Idiot bist.
Nun finden sich diese Argumentationslinien in den verschiedensten Kontexten verhaltensökonomisch inspirierter Steuerungsabsichten. Da sie sich häufig, wie z. B. im Gesundheitssystem, an der Schnittstelle zu konsensualen Diskurshegemonien bewegen, scheint es oft unangebracht daran Kritik zu üben. Wer wollte schon gegen abschreckende Bilder auf Zigarettenpackungen sein oder die Stimme gegen das Ziel einer gesünderen Ernährung erheben. Schließlich geht es hier um lebensrettende Maßnahmen: „If properly devised, disclosure of information can save both money and lives.”[3] (Sunstein 2014: 584)
Bei allen diesen Steuerungsabsichten wird jedoch, wie gezeigt, den Individuen ein Handlungsziel quasi zwangsverordnet. Nicht ohne Grund firmieren viele verhaltensökonomische Ansätze unter dem Label des „libertären Paternalismus“ (z. B. Thaler und Sunstein 2008). Selbsterklärtes Ziel dieser zwanglosen Übergriffigkeit ist die Befreiung des Subjektes aus dem Gefängnis der „psychological shell“, also gewissermaßen des Menschen von sich selbst als einem solchen. Entsprechend der These dieses Essays zeichnet sich hierin eher eine Entmenschlichung als eine Humanisierung ab, so dass dem legitimatorischen Pathos dieser ökonomischen und politischen Verhaltenssteuerung entschieden zu widersprechen ist. Die moralischen Euphorisierungen gehen, wie wir im Folgenden sehen werden, so weit, dass man sich dazu versteigt, diese Formen der „wohlgemeinten“ Übergriffigkeit als ein humanistisches Projekt, ja sogar als die Humanisierung der Ökonomik insgesamt zu verklären.
3 Eine ökonomistische Humanität
Der normative Anspruch, mit dem die Verhaltensökonomik antritt, ist bereits angedeutet worden. Ich möchte nun im Folgenden zur Verdeutlichung beispielhaft eine Rede von Robert Shiller aus dem Kontext der Behavioral Finance heranziehen. Im Fokus der Betrachtungen dieses Essays steht nach wie vor die Diskrepanz von menschlichem Verhalten und institutioneller Rahmengestaltung sowie die Vorschläge zu deren Überwindung oder Verringerung. Dabei überdeckt der legitimatorische Pathos, wie er für die Verhaltensökonomik typisch zu sein scheint, die normative Verortung der zugrunde liegenden Konzepte. In Robert Shillers Vorlesung anlässlich der Verleihung des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften im Jahr 2013 wird dies besonders deutlich (Shiller 2014). Hier steigert sich die besorgte Fürsprache für die „eigentlichen Absichten“ des Einzelnen zu einem moralischen Höhenflug. Im Kontext der Behavioral Finance deklariert er die Verhaltensökonomik kurzerhand als humanistisches Projekt. Shiller schreibt hinsichtlich der normativen Selbstverortung der zugrundeliegenden Forschungsagenda:
“The overarching theme of this work of mine is that we need to democratize and humanize finance in light of research on human behavior and the functioning of markets. […] Humanizing finance means making financial institutions interact well with actual human behavior, taking account of how people really think and act.” (Shiller 2014: 1508)
Es geht Shiller zufolge in der Behavioral Finance dementsprechend um eine Annäherung zwischen institutionellen Arrangements und der für menschliches Verhalten typischen Mannigfaltigkeit. Die normative Dimension lässt sich wie erwähnt an der Frage festmachen, welcher dieser beiden Pole zum Problem erklärt wird. Bei Shiller, wie für die Verhaltensökonomik insgesamt typisch, ist es das menschliche Verhalten, das von ihm in den Mittelpunkt der Problematisierung gerückt wird. Anders formuliert: Der gesellschaftspolitisch zu gestaltende Spielraum öffnet sich dort, wo es um das Zusammenspiel von institutionalisierten Strukturen und handelnden Menschen geht. Der normative Charakter dessen besteht nun in der Frage, welcher der beiden Pole die unabhängige Variable, also die maßgebende Instanz sein soll – Institutionensetting oder Mensch.
Die Antwort Shillers ist eindeutig: es sollen nicht die Institutionen an sich (man könnte hier auch von Produktionsverhältnissen bzw. von Produktions-, Allokations- und Apropriationsprinzipien sprechen) geändert werden. Vielmehr scheint lediglich deren Benutzeroberfläche eines verhaltensökonomisch informierten Relaunchs zu bedürfen. Es geht dabei um eine Weiterentwicklung dieser institutionellen Settings, um sie in ihrer sozioökonomischen Wirksamkeit zu erhöhen. Und dies geschieht, wie nicht oft genug betont werden kann, vor dem Hintergrund eines normativen Selbstmissverständnisses. So postuliert Shiller nun die „Verbesserung“ der Wechselwirkung von (fraglos gegebenem) Institutionensetting und Mensch als eine „Humanisierung“ der strukturellen Rahmensetzung. Gerade diese Interaktionsdynamik von Markt und Mensch soll vor dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse mit Hilfe einer gezielten Gestaltung der Entscheidungsarchitekturen domestiziert werden. Zu steuern sind dabei jedoch nicht die Institutionen, sondern der Mensch.
„Institutions that change framing might sometimes qualify as institutions providing a “nudge” as Thaler and Sunstein […] have put it, suggesting the right direction for people without being coercive.” (Shiller 2014: 1510)
Von normativem Interesse ist hierbei schließlich die Frage, nach welchen Kriterien „the right direction for people“ qualifiziert und auf ihre „Menschlichkeit“ hin überprüft wird. Es ist fraglos klar, dass es sich dabei um die Zielvorgabe möglichst vollkommen rationaler Eigennutzmaximierung handelt, die dann die „vision for a better financial capitalism“ (ebd.) ermöglichen soll. Nur so können, und das ist das allumfassende Ziel, effiziente Märkte hervorgebracht werden. Und auch hier: Wer hätte etwas dagegen sich dafür einzusetzen, die Effizienz von Finanzmärkten zu erhöhen? Die Semantik des Humanismus eröffnet ein moralisches Spannungsfeld, durch welches eine Kritik an dieser Absicht nur noch als das Werk eines Misanthropen gelten kann.
Das entscheidende ist, dass auch hier ein sozial konstruierter Verhaltensmaßstab fraglos angewendet wird, der dann vermeintlich objektive, und darüber hinaus als humanistisch verklärte Diagnostiken erlaubt. Auf diese Weise können Dinge wie ein „abnormal return“ (Shiller 2014: 1504) berechnet werden und die Herausforderung besteht darin, die durch Idiotie, Desinteresse oder Faulheit verursachten Pathologien auf dem Markt zu beseitigen. Ulrich Bröckling bringt es auf den Punkt, indem er schreibt:
„Das rational wählende Subjekt der Ökonomen wird nicht verabschiedet, es soll mittels Nudging vielmehr dazu befähigt werden, eines zu werden.“ (Bröckling 2017: 187)
Was ich hier zusammenfassend abstreiten möchte ist die Behauptung, dass die in diesem Sinne gezielte Gestaltung einer Entscheidungsarchitektur als ein humanistisches Projekt verstanden werden kann. Im Gegenteil geht es der Behavioral Finance, wie der Verhaltensökonomik im Allgemeinen, dezidiert nicht um eine Humanisierung der Ökonomie denn viel mehr um eine Ökonomisierung der Humanität. Nicht die Ökonomie mit ihren Institutionen soll nach humanistischen Idealen umgestaltet werden, sondern die Vielfalt der Verhaltensempirie soll sich dem Diktat ökonomischer Zielvorstellungen unterwerfen. Indem mittels entsprechender Entscheidungsarchitekturen die Vielfalt menschlichen Verhaltens paternalistisch kanalisiert wird, verabschiedet man sich von einem zentralen Aspekt eines aufgeklärten Humanismus. Namentlich handelt es sich dabei um die Subjektautonomie eines vernunftbegabten und frei sich entfaltenden Wesens. Letztlich kann das von mir problematisierte Spannungsverhältnis auf die folgende Frage heruntergebrochen werden: Soll das menschliche Verhalten in seiner „Funktionsweise“[4] auf die Erfordernisse ökonomischer Institutionen, oder anders herum, ökonomische Institutionen in ihrer Funktionsweise an menschliche Bedürfnisse angepasst werden?
Begreift man den Menschen als in einer „psychological shell“ gefangen, aus der stetig ein letztlich vollkommen rationales Wesen auszubrechen versucht, so ist die Antwort klar. Auf diese Weise wird deutlich, dass „Menschlichkeit“ bzw. „Humanisierung“ von der Verhaltensökonomik eher als Chiffre für ein institutionelles Setting verstanden wird, dass die Durchsetzung der (nicht zur Disposition stehenden) ökonomistischen Zielvorgaben erhöht. Damit ist das gespannte Verhältnis zwischen Ökonomie[5] und Humanität eindeutig in die eine Richtung – die der Ökonomie – gekippt. Trotz ihres freilich selektiven Charakters meiner Ausführungen zeigt sich deutlich, dass es dabei in letzter Konsequenz entgegen eines humanistischen Ideals gerade nicht darum geht, die institutionelle Rahmung der Ökonomie menschlicher zu gestalten, sondern den Menschen in seiner Adressabilität ökonomistisch zu erschließen. Polemisch formuliert: Es geht in der Verhaltensökonomik weniger um die Herausbildung menschlicher Wirtschaftsstrukturen, als vielmehr um die verhaltenstherapeutische Züchtung marktförmiger Menschen.
4 Eine humanistische Ökonomie
Zur kontrastierenden Verdeutlichung dieser These möchte ich nun kurz auf eine wirtschaftstheoretische Alternativperspektive aus dem Jahre 1844 eingehen. Die Überlegungen aus der Feder des jungen Karl Marx können, so möchte ich zeigen, in Abgrenzung zum voranstehenden Ansatz gewissermaßen als Utopie einer tatsächlich humanistischen Ökonomie begriffen werden. Im Alter von 26 Jahren schreibt Marx im französischen Exil einen Textkorpus, der unter dem Titel „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ bekannt geworden ist. Unabhängig davon, ob man nun die kommunistische Ideologie seiner Analysen teilen mag oder sie vor dem Hintergrund realpolitischen Missbrauchs des 20. Jahrhunderts sogar gänzlich ablehnt, kann diese Frühschrift doch als erhellende Kontrastfolie herangezogen werden. Marx entwirft hier eine romantische Gesellschaftsutopie, welche stark von naturphilosophischen und humanistischen Einflüssen des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Bekanntermaßen entzündet sich seine sozial- und wirtschaftstheoretische Kritik maßgeblich an der Frage nach dem Privateigentum im Allgemeinen und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln im Speziellen. Mit der Aufhebung des „Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung“ (MEW 40: 536), so seine These, gelange der Mensch zu einer wahrhaft humanistischen Gesellschaft. In dieser begegnen sich Menschen (dank der romantischen Vorstellung humanistischer Entwicklungslogik) untereinander nicht mehr als vereinzelte Träger von Privateigentum, und sei es nur in Form der eigenen Arbeitskraft. Vielmehr geht es hier um die „[…] Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen.” (ebd.)
In diesem Sinne soll es dem Kommunismus gelingen, so Marx, eine Form der menschlichen Produktion und Reproduktion hervorzubringen, in der der Mensch im Geiste eines humanistischen Ideals zu sich selbst findet (Gleichheit der Lebenschancen, würdevolle Lebensbedingungen, weitestgehende Emanzipation des Einzelnen von ökonomischen Zwängen etc.). Dezidiertes Ziel des jungen Marx ist es, diejenige Logik der sozialen Zergliederung zu überwinden, welche Gesellschaften nach Klassen differenziert und antagonistisch gegeneinander aufbringt. Es geht um die nach humanistischen Maßstäben notwendige Aufhebung eines (un)menschlichen Selbstverhältnisses, in welchem die Ideale der Aufklärung im Getriebe kapitalistischer Verwertungs- und Produktionslogiken zerrieben werden. Und nicht nur das, sondern es soll auf diese Weise darüber hinaus gelingen, dass der Mensch, indem er zu sich selbst (zurück-)findet, auch sein instrumentelles Verhältnis zur Natur, die er ist, überwindet. Marx schreibt:
„Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.“ (MEW 40: 536)
Freilich wäre zu diesem Theorieentwurf vieles mehr, durchaus auch kritisches anzumerken. Jedoch, und das ist es was ich hier kontrastierend hervorheben möchte, findet in diesem an humanistischen Idealen orientierten Ansatz der Mensch durch eine Umgestaltung der entfremdenden wirtschaftlichen Institutionen zu sich selbst. Das bedeutet, dass mittels der bewussten und vernünftigen Gestaltung eines existenzsichernden Stoffwechsels mit der Natur ein neues gesellschaftliches Selbstverhältnis ermöglicht würde. Dieses wäre maßgeblich charakterisiert durch eine Gleichheit der Lebensverhältnisse und die weitest mögliche Emanzipation von natürlichen und sozialen Zwängen. Der Mensch würde, so das humanistische Ideal, aufgrund seiner einzigartigen Fähigkeit vernünftiger (Selbst-)Erkenntnis das institutionelle Setting ökonomischer Betätigung bewusst gestalten und an die eigenen Bedürfnisse anpassen. Nicht der Einzelne hätte sich hier den Erfordernissen der vermeintlich unveränderbaren Institutionen unterzuordnen, sondern letztere müssten im Interesse aller nach emanzipatorischen Gesichtspunkten gestaltet werden. Ein derart humanistisch gedachtes Selbstverhältnis bezöge gleichermaßen einen würdevollen Umgang der Menschen untereinander wie ihr Verhältnis zur stofflichen Umwelt mit ein. Insbesondere der letztere Aspekt scheint mir angesichts der gegenwärtigen Debatten und Kämpfe um eine klimaneutrale Lebensweise hochgradig aktuell.
Entscheidend dabei ist, dass eine solche Umgestaltung des Stoffwechsels miteinander und mit der Natur gerade nicht durch machtpolitische oder verhaltenstherapeutische Interventionen paternalistisch herbeigeführt werden müsste. Ganz im Gegenteil legitimierte sich dieses kollektive Selbstverhältnis der Menschen durch eine deliberative und vernunftbasierte Interessensangleichung und entspräche damit den Vorstellungen einer aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft. Dies kann gewissermaßen parallel zu den Wandlungsprozessen der politischen Sphäre gelesen werden, wie sie seit der französischen Revolution stattgefunden haben: Wie die Einführung demokratischer Entscheidungsorgane die Politik menschlich im Sinne des Humanismus gemacht hat, so gilt es im Kontext der Ökonomie eine Organisationsform des Wirtschaftens zu (er-)finden, die existenzsichernde Tauschprozesse auf Basis humanistischer Ideale erlaubt und fördert.
5 Fazit
Vor dem Hintergrund der hier dargelegten Überlegungen ist deutlich geworden, dass es sich bei der Verhaltensökonomik mit ihren politischen Implikationen keineswegs um eine humanistisch inspirierte Forschungsagenda handelt. Vielmehr geht es dabei um die normativ geleitete Entwicklung eines verhaltenstherapeutischen Wirkverstärkers. Indem die Entscheidungsarchitektur nach den Maßgaben der Markteffizienz gestaltet wird, versucht man das menschliche Verhalten insofern zu kanalisieren, dass es dem zugrunde liegenden Paradigma gerecht wird. Dies ist nun allerdings, wie hoffentlich durch die Kontrastierung in diesem Essay deutlich geworden ist, keineswegs ein humanistischer Ansatz. Vielmehr wird auf diese Weise die Ökonomisierung der subjektiven Lebenswelt vorangetrieben und in das Mäntelchen humanistischer Rhetorik gekleidet. In scharfem Gegensatz zu dieser disziplinären Selbststilisierung stellt die diskursive Abwertung menschlicher Subjekte im Sinne eines „homo myopicus“ (Bröckling 2017: 188), wie sie für die Verhaltensökonomik typisch ist, eine Infantilisierung der Agierenden dar. Solche Konzepte bewegen sich ganz offensichtlich im zwar seichten, aber dennoch eindeutig autoritären Fahrwasser prä-humanistischer Ideale.
Während schließlich die Verhaltensökonomik dem Menschen mittels therapeutischer Ansätze zur Verwirklichung des Homo Oeconomicus verhelfen will, hätte ein wirklich humanistischer Ansatz dagegen eine „Oeconomia Humana“ zum Ziel. Bei letzterer ginge es dabei, wie gezeigt, um die kreative und deliberative Gestaltung eines institutionellen Settings, dass es den Menschen erlaubt, im Geiste humanistischer Ideale miteinander die existenzsichernden Notwendigkeiten der eigenen Produktion und Reproduktion zu organisieren. Freilich kann ein solcher Ansatz viele Gesichter haben und muss keineswegs die Form Marxschen Gedankengutes annehmen. Nimmt man eine Oeconomia Humana jedoch ernst, gilt es die angesichts sozioökologischer Verwerfungen gegenwärtig drängende Frage in den Raum zu stellen, ob es nur diese eine Form des Wirtschaftens geben kann? Müssen wir im Geiste humanistischer Ideale nicht zumindest versuchsweise das Wagnis eingehen, Ökonomizität frei von den Fesseln einseitig interessengeleiteter und historisch einengender Vorannahmen zu denken?
So möchte ich zusammenfassen, dass es bei einer tatsächlichen Oeconomia Humana um das Aufbrechen einer geistig-ökonomischen Monokultur mit ihren verheerenden Folgen für Mensch und Natur ginge. Bei dieser sich angesichts sozioökologischer Krisen von selbst stellenden Herausforderung stünde jedoch nicht nur das humanistische Projekt in einem romantischen Sinne auf dem Spiel, wie es manchen vielleicht sogar anachronistisch erscheinen mag. Es handelt sich hier um eine viel grundlegendere Form des Humanismus, ja gewissermaßen um einen existenziellen Humanismus, bei dem, mittel- und langfristig gedacht, nichts mehr und nichts weniger als das Fortbestehen der menschlichen Spezies selbst auf dem Spiel steht. In unromantischer und unideologischer Anerkennung unserer stofflich-existenziellen Angewiesenheit auf ökologische Kreisläufe und deren Nachhaltigkeit gilt es „wirtschaftliches Handeln“ ebenso wie das, was Humanismus heute bedeuten kann, grundlegend, kreativ und zeitgemäß weiterzuentwickeln.
6 Literatur
Albert, Hans (1967): Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziologischer Perspektive. 1. Auflage. Neuwied am Rhein: Luchterhand.
Borch, Christian/Lange, Ann-Christina (2017): Market sociality: Mirowski, Shiller and the tension between mimetic and anti-mimetic market features. Cambridge Journal of Economics, Vol. 41. S. 1197 – 1212.
Bourdieu, Pierre/ Wacquant, Loic J. D (1996): Die Ziele der reflexiven Soziologie, in: Bourdieu, Pierre/ Wacquant, Loic J. D.: Reflexive Anthropologie (S. 95-251). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bröckling, Ulrich (2017): Gute Hirten führen sanft. Über Menschenführungskünste. 1. Aufl. Suhrkamp.
Loewenstein, George / Haisley, Emily (2008): The Economist as Therapist: Methodological Ramifications of 'Light' Paternalism. In: A. Caplin and A. Schotter (Eds.): Perspectives on the Future of Economics. Positive and Normative Foundations. Vol. 1: Oxford, England.
Mehta, Judith (2013): The discourse of bounded rationality in academic and policy arenas: pathologising the errant consumer. Cambridge Journal of Economics, Vol. 37. S. 1243 – 1261.
MEW 40 (1968): Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Erster Teil. (Marx und Engels Werke, Band 40). Berlin: Dietz.
Rabin, Matthew (2002): A perspective on psychology and economics. European Economic Review, Vol. 46. S. 657 – 685.
Shiller, Robert J. (2014): Speculative Asset Prices. American Economic Review, Vol. 104 (No. 6). S. 1486 – 1517.
Sunstein, Cass R. (2014): Nudging: A very short guide. Consum Policy, Vol. 37. S. 583 – 588.
Thaler, Richard (2000): From HomoEconomicus to Homo Sapiens. The Journal of Economic Perspectives, Vol. 14 (No. 1). S. 133 – 141.
Thaler, Richard/Sunstein, Cass R. (2008): Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness. New Haven, Yale University Press.
[1] Beispielhaft sei hier lediglich auf Borch und Lange (2017) hingewiesen, die zwar mit der Unterscheidung von mimetischem und antimimetischem Verhalten eine Interessante Argumentationslinie in der Verhaltensökonomik herausarbeiten, dabei jedoch kurzerhand das eigennutzmaximierende Kalkül rationalen Handelns in die letztere Kategorie einordnen. Vgl. zu dieser Frage ebenfalls die Kritik an der Idee eines anthropologisch invarianten Interesses der Subjekte, wie sie Pierre Bourdieu formuliert (z. B. Bourdieu et al. 1996: 148 f, 156).
[2] In diesem Zusammenhang ist dem Postulat Richard Thalers (2000) zu wiedersprechen, der Homo Oeconomicus werde in den Wirtschaftswissenschaften zukünftig durch den Homo Sapiens ersetzt. Viel mehr zeichnet sich ein Menschenbild ab, welches sich primär am Menschen als einem kognitiv defizitären Wesen, also eher einem Homo Ignarus (unwissender Mensch) orientiert. Schließlich geht es in der Verhaltensökonomik beispielsweise um die „natural human tendency toward unrealistic optimism“ (Sunstein 2014: 586).
[3] Auch z. B. Loewenstein und Haisley (2008: 3) inszinieren sich als Lebensretter_innen, weil “[…] people with, or at risk for, life-threatening health conditions often fail to take the most rudimentary steps to protect themselves.”
[4] Selbstverständlich werden menschliche Verhaltensweisen überhaupt erst durch die steuernden Domestizierungsversuche auf eine spezifische Funktion hin reduziert. Es ist gerade diese Funktionalisierung des Menschen im Rahmen unhinterfragter und vermeintlich unhinterfragbarer wirtschaftlicher Institutionen, die den normativen Kern der Verhaltensökonomik ausmacht.
[5] Ich verwende den Begriff „Ökonomie“ hier nach wie vor im Sinne der rationalistisch-kompetitiven Vorstellung menschlicher Tauschverhältnisse, also im Rahmen des heute gängigen Verständnisses. Eine alternative, sich umgekehrt an humanistischen Idealen orientierende Möglichkeit ökonomischer Institutionalisierung werde ich zum Zwecke der Kontrastierung im nachfolgenden Abschnitt kurz ansprechen.
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