Verantwortung als mitweltorientierte Sorge

Verantwortung als mitweltorientierte Sorge

Foto: Brett Ritchie | Unsplash

Sarah Lange
Netzwerk Plurale Ökonomik
Poziom: początkujący
Perspektywy: Ekonomia ekologiczna, Ekonomia neoklasyczna
Temat: mikroekonomia, resources, environment & climate, social movements & transformation
Formularz: Essay

Ein Gedankenspiel über unternehmerischen Wandel mit einem ungewöhnlichen Gesprächspartner

Stellen Sie sich vor, Sie treffen eine außerirdische Gestalt, ein quietsch-grünes Alien, rein zufällig natürlich, auf dem allmorgendlichen Weg zur Arbeit. Es schaut Sie stirnrunzelnd an und fragt: „Was ist die Erde? Was macht euren Planeten aus?“ Was würden Sie antworten? Wären Sie ehrlich?

           


Dieser Artikel wurde auf Agora42 erstveröffentlicht.
In der Kolumne Jenseits von Angebot und Nachfrage nehmen Autor*innen aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die fachlichen Scheuklappen der Lehrbuchökonomie ab und werfen einen pluralökonomischen Blick auf gesellschaftspolitische Fragestellungen.


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Ich würde Folgendes antworten: Wir leben im Zeitalter moderner Lohnsklaverei, Meerestiere ersticken am Plastikmüll unersättlicher Konsument*innen und das „ewige Eis“ der Polkappen weist zunehmend die gleiche Tendenz auf wie eine Tüte Vanilleeis im Sommerurlaub. Anhänger*innen der Fridays for Future-Bewegung verkünden auf selbstgemalten Transparenten „Profit oder Zukunft“. Die Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen schreitet stetig voran und Forderungen nach einem grundlegenden Wandel werden lauter. Verantwortung für die geforderte Transformation wurde in der Vergangenheit vor allem bei staatlichen Institutionen, NGOs oder Individuen gesucht. Wenn es doch einmal um die Verantwortung von Unternehmen geht, werfen sie diese wie einen heißen Ball gleich den einzelnen Konsument*innen zu. Globale Märkte werden von Großkonzernen beherrscht, die ihre eigene Daseinsgrundlage (Umwelt, Stakeholder etc.) systematisch ausbeuten und zerstören. Es ist höchste Zeit für einen fundamentalen Wandel. Es braucht Unternehmer*innen, die sich ihrer moralisch-ethischen Verantwortung bewusst sind und die Mitwelt, auf der ihre Profite gründen, zukunftsgewandt gestalten, anstatt sich maßlos an ihr zu bereichern.

Alien oeconomicus

Nehmen wir einmal an, Sie sind so ehrlich und beschreiben dem Außerirdischen die ganze Misere des menschlichen Wirkens auf unserem Heimatplaneten. Das Alien wird Sie vermutlich weiterhin mit fragendem Blick mustern. Ihr außerirdisches Gegenüber denkt rational, nutzenmaximierend und ist frei von störenden Emotionen. Ein „Alien oeconomicus“ ganz im Sinne der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie. Es versteht zwar, was Sie mit einer moralisch-ethischen Transformation verändern wollen, aber nicht warum.

Die menschliche Spezies bewohnt einen kleinen, blauen Planeten, der um einen gelben Zwerg mit mittelmäßiger Leuchtkraft kreist. In etwa fünf bis sieben Milliarden Jahren wird der Wasserstoffvorrat dieses gelben Zwerges erschöpft sein, er wird sich aufblähen und dabei die ihm nahegelegenen Planeten Merkur, Venus und Erde zerstören. Alles was lebt, stirbt – so ist das nun einmal. Der Moment unseres ersten Atemzuges ist zugleich der erste Schritt in Richtung Vergänglichkeit. Eine Gewissheit, die beängstigend sein kann – oder befreiend. Was zählt noch, wenn alles vergeht? Wenn wir Menschen uns der eigenen Unbedeutsamkeit bewusst werden. Wenn wir der Tatsache ins Auge sehen, dass jeder von uns, ungeachtet von Herkunft, Einkommen oder sozialem Status letztlich nur als zeitlich begrenztes Konglomerat der gleichen 61 Elementarteile existiert. Vor diesem Hintergrund drängt sich nicht nur der fiktiven Bekanntschaft aus dem Weltraum (eine vermessene, egozentrische Vorstellung: Der Raum, der unsere Welt umgibt), sondern auch mir selbst die Frage auf: Wie lässt sich eine solch fundamentale ökonomische und gesamtgesellschaftliche Transformation aus einer orts- und zeitüberdauernden Metaperspektive heraus begründen (die notwendig wäre, um einen reellen Wandel herbeiführen und sich von aktuell praktizierten Verschlimmbesserungen unter dem Primat der Kapitalakkumulation zu unterscheiden). Welche Folgen hätte eine derartige übergeordnete Herangehensweise für die Rolle von Unternehmen?

Der Mensch als vergängliches Gebilde

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst…“ hat sich schon König David in seinem achten Psalm gefragt. Wenn ich diesen Gedanken weiterspinne (sicherlich nicht so, wie vom Verfasser impliziert – er mag es mir im Sinne des Strebens nach Weisheit verzeihen) erscheint es mir sinnvoll, bei der existenziellen Frage anzusetzen, was Menschen überhaupt noch als bedeutsam und richtungsweisend für ihr Handeln begreifen sollten, wenn wir uns auf das Gedankenspiel einlassen, den Menschen nur als vergängliches Gebilde aus Quarks, Leptonen und anderen Elementarteilchen zu betrachten.

Ich denke was zählt ist das, was uns vom klassisch kognitiven Akteur, gewissermaßen von einem stets durchdacht handelnden Mister Spock unterscheidet und was uns als affektiv-intentionale Wesen eint: Unsere innersten Empfindungen. Das Leid von Kinderarbeiter*innen in baufälligen Fabriken und auf den Müllhalden unserer westlichen Konsumsucht zählt. Die Trauer von Familienmitgliedern ertrunkener Flüchtlinge, die auch aus Angst vor Waffen aus deutschen Rüstungsexporten ihr Heimatland verließen, zählt; aber es zählen auch Freude und Zufriedenheit, die Unternehmen in ihrem Wirkungskreis schaffen können. Auch wenn wir als Menschen vergänglich sind, so sind doch unsere Emotionen real. Aus der Anerkennung dessen heraus, erwächst die Einsicht, dass der entscheidende Kern des vor uns liegenden Wandels in der Verantwortung zu finden ist. Wirtschaftliche Akteure müssen Verantwortung übernehmen für das Leid, für die Angst, die Ihr Wirken zur Folge haben kann.

Unternehmen, insbesondere multinationale Großkonzerne, treten nicht nur hinsichtlich ihrer ökonomischen Wirkungsfelder, sondern auch in sozialen und politischen Kontexten als machtvolle Akteure auf. Sie schaffen soziale Normen und beeinflussen das Verhalten von Individuen. Solch große Handlungsspielräumen bedürfen klarer Verantwortbarkeit. In der gegenwärtigen rechtlichen Situation sind wir jedoch mit drastischen Verantwortungslücken von Unternehmen konfrontiert. Wie sonst ist es möglich, dass in einer namenhaften Aktiengesellschaft wie Volkswagen mit verschiedenen Kontrollinstanzen auf unterschiedlichen Ebenen gravierende Manipulationen weder verhindert noch intern geahndet wurden? Doch auch unabhängig von Praktiken, welche selbst im bestehenden unternehmerfreundlichen Steuer- und Rechtssystem in den Bereich der Illegalität fallen, ist eine Ausweitung des Verantwortungsbewusstseins notwendig – etwa hinsichtlich Produktpalette, Mitarbeiter*innen oder Steuerpolitik. Wenn Automobilhersteller vermehrt elektrisch (bzw. oft nur hybrid-) angetriebene Fahrzeuge auf den Markt bringen, bei welchen es sich jedoch um PS-starke SUVs oder Geländewagen für den Großstadtdschungel und die linke Spur deutscher Autobahnen handelt, kann kaum von einem erneuerten Verantwortungsbewusstsein der Hersteller ausgegangen werden.

Wenn die Externalisierung wesentlicher Kosten eine beträchtliche Rentabilitätssteigerung ermöglicht, liegt es schlichtweg nicht im Wesen profitorientierter Konzerne, verantwortungsvoll zu handeln. Insbesondere börsennotierte Unternehmen sind einem immensen kurzfristigen Gewinndruck ausgesetzt. „Statt in die Zukunft zu investieren und etwa ihr Budget für Forschung und Entwicklung zu erhöhen, betreiben sie kurzsichtige Kurspflege zum Wohle der Aktionäre“, beanstandet etwa der US-Ökonom Bill Lazonick 2017 in einem Interview mit dem Handelsblatt. Der Annahme der vom Individualismus geprägten Österreichischen Schule (um Friedrich Hayek), dass es im möglichst unreglementierten Kapitalismus auch den ärmsten Gesellschaftsmitgliedern grundsätzlich besser gehe, würden jene Menschen in Südafrika, Pakistan oder Äthiopien, deren ohnehin knappes Grundwasser von Nestlé Waters abgepumpt wird, wohl kaum zustimmen.

Verantwortung als mitweltorientierte Sorge

Wenn wir dem menschlichen Tun hier auf unserem kleinen blauen Planeten eine Bedeutung geben wollen, dann braucht es ein Mehr an Verantwortung. Dabei geht es nicht lediglich um eine Verantwortung im Sinne einer Rechenschaft oder Haftung für Vergangenes, sondern auch um eine Verantwortung als mitweltorientierte Sorge. Wir müssen verstehen, dass ein freier Markt nicht mit einer freien Gesellschaft gleichgesetzt werden kann.

Als Grundlage einer moralisch-ethischen Entwicklung, müssen die Voraussetzungen für eine eindeutige Verantwortungszuschreibung geschaffen werden. In Unternehmen (aber auch im politischen Kontext, wie etwa innerhalb des Verkehrsministeriums) bedarf es einer Klärung hinsichtlich dreier Fragen: Wer ist verantwortlich, wofür und gegenüber wem besteht die Verantwortung? Essenziell für die Klärung dieser Fragen, ist das Bewusstsein darüber, dass sowohl Mitarbeiter*innen als auch Eigentümer*innen und Unternehmen als solche in der Lage sind, Verantwortung zu tragen.

Anstatt einen rechtlichen Rahmen für Verantwortungszuschreibung zu schaffen, begünstigt das bestehende Zivilrecht aufgrund der beschränkten Haftung von Eigentümer*innen jedoch eine unternehmensinterne Kultur der Verantwortungslosigkeit. Die GmbH ist die in Deutschland am weitesten verbreitete Gesellschaftsform. Der Grund für die Beliebtheit dieser Rechtsform äußert sich bereits in ihrem Namen. Gesellschafter*innen können nicht persönlich haftbar gemacht werden. Es handelt sich bei der GmbH um eine Kapitalgesellschaft, nicht um eine Personengesellschaft. Die GmbH tritt, wie beispielsweise auch Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA), als juristische Person auf. Die Beantwortung der Frage, ob Vorstandsmitglieder und Gesellschafter*innen von VW, Nestlé oder der deutschen Bank bei einer zumindest teilweisen privaten Haftbarkeit etwaiger Folgen ihrer Entscheidungen ebenso hohe Risiken eingehen und ebenso selbstsicher in rechtlichen Dunkelgrauzonen agieren würden, soll den Leser*innen an dieser Stelle selbst überlassen werden.

Welchen Preis hätte es, nichts zu verändern?

Selbst in Anbetracht der unweigerlichen Vergänglichkeit unseres Heimatplaneten, unserer Lebensgrundlage, ist es von Bedeutung, wie wir in Zukunft miteinander leben und wirtschaften wollen. Transformation in Richtung eines maß- und verantwortungsvollen Unternehmer*innentums bedeutet auch, neue Möglichkeiten denken zu können und sich nicht auf die trügerische Sicherheit einer falsch verstandenen Stabilität als immerwährende Anerkennung des Status Quo einzulassen. Jede Veränderung hat Ihren Preis, aber welchen Preis hätte es, nichts zu verändern?
Sollte Ihnen einmal – rein zufällig natürlich – ein Außerirdischer begegnen und Sie fragen, „was ist die Erde?“, was würden Sie ihm antworten?


Sarah Lange ist Masterstudentin der Pluralen Ökonomik an der Universität Siegen, studierte zuvor Wirtschaftspsychologie in Darmstadt und ist Mitglied des Netzwerks Plurale Ökonomik. Ihr besonderes Interesse gilt Fragestellungen an den Schnittstellen von Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Philosophie.


Von der Autorin empfohlen:

SACH-FACHTEXTE   ROMAN   FILM

Gustav Bergmann: Mitwelt. Ein Versuch über ein Leben im Einklang und die große Transformation der Gesellschaft (2020, online unter: https://www.gustavbergmann.de/buecher-texte.html)

Katharina Kort: Die Gier ist das Problem – US-Ökonom Bill Lazonick beklagt die zunehmende Aktienrückkäufe von Unternehmen (Handelsblatt 2017, online unter: https://www.handelsblatt.com/ unternehmen/ management/us-oekonom-bill-lazonick-die-gier-ist-das-problem/20561824.html)

Christian Lautermann: Verantwortung unternehmen! Die Realisierung kultureller Visionen durch gesellschaftsorientiertes Unternehmertum (Metropolis, 2012)

Christian Neuhäuser: Unternehmen als moralische Akteure (Suhrkamp, 2011)

 

Andreas Izquierdo: Der Club der Traumtänzer (DuMont, 2020)

 

Dead Man Walking von Tim Robbins (1995)


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