Ergebnisse einer quantitativen Befragung an deutschen Hochschulen
Tim Engartner, Eva Schweitzer-Krah
Die Studie untersucht, wie Studierende der Volkswirtschaftslehre (VWL) an deutschen Hochschulen ihr Fach und die Pluralismusdebatte wahrnehmen. Schriftlich befragt wurden 351 Studierende der VWL im vierten Semester an den Universitäten Bonn, Frankfurt/M., Hamburg, Heidelberg und Mannheim. Die Ergebnisse lassen sich in drei Kernpunkten zusammenfassen.
Die Studierenden teilen die Kritik an der ökonomischen Mainstream-Lehre. Die VWL wird von ihnen als praxisfern, mathematisch fokussiert, wenig interdisziplinär und abgewandt von gesellschaftlichen Grundfragen erlebt.
Eine flächendeckende Beteiligung an der Pluralismusdebatte findet gleichwohl kaum statt.
Hochschulweit beklagen die Befragten vielmehr eine immense Wettbewerbsorientierung in der VWL. Karriereambitionen, Leistungsdruck und Konkurrenzdenken nehmen im Studium zu, während Attribute des Sozialverhaltens (u. a. Idealismus, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Einfühlungsvermögen) in den Hintergrund treten.
Diese Veränderung scheint die Bereitschaft der Studierenden zu mindern, sich uneigennützig für eine fachliche Erneuerung in der VWL einzusetzen. Stattdessen geben sie den prüfungsrelevanten Mainstream-Inhalten den Vorzug vor einem aufwendigen und ungewissen Engagement in der Pluralismusdebatte.
Wie soll die heutige Volkswirtschaftslehre beschaffen sein? Mit welchen Themen soll sie sich inhaltlich auseinandersetzen? Und auf welche Weise soll sie selbige bearbeiten? Diese Fragen stehen im Zentrum der sogenannten Pluralismusdebatte. Vertreter_innen einer pluralen Ökonomik fordern eine Erneuerung der VWL, die neben größerer theoretischer Vielfalt und Interdisziplinarität vor allem eine Erweiterung des vermittelten Methodenrepertoires vorsieht. Die Pluralismusdebatte geht inzwischen über einen rein fachinternen Diskurs hinaus. Sie beschäftigt Wissenschaftler_innen, Studierende und Journalist_innen gleichermaßen und stellt dabei einen Kristallisationspunkt für die wirtschafts- und bildungspolitische Eigenreflexion der Gesellschaft dar. Erstaunlicherweise hat die empirische Begleitforschung zur Pluralismusdebatte allerdings die Stimmen der Studierenden bisher kaum näher in den Blick genommen. Zwar finden sich auf nationaler und internationaler Ebene zahlreiche Gruppierungen, die an ihrem Hochschulort für Pluralismus in der Volkswirtschaftslehre eintreten (z. B. Netzwerk Plurale Ökonomik, International Student Initiative for Pluralism in Economics). Wie Studierende auf breiter Basis ihr Fach und die anhaltende Pluralismusdebatte wahrnehmen und sich in dieser positionieren, ist aber nach wie vor unklar. Diese Forschungslücke ist Ausgangspunkt der vorliegenden Studie.
Im Sommersemester 2017 wurden 351 Studierende der VWL an den Universitäten Bonn, Frankfurt/M., Hamburg, Heidelberg und Mannheim schriftlich befragt. Diese Standorte zählen bundesweit zu den zehn größten Fakultäten für VWL, gemessen an der Zahl der dortigen Professuren. Die Befragung wurde vor Ort in einer für das vierte Fachsemester verbindlichen Vorlesung durchgeführt. Dieser Auswahl lag die Überlegung zugrunde, dass mit hinlänglichen Studienerfahrungen und wachsenden Fachkenntnissen verlässliche Aussagen zum Zustand der ökonomischen Hochschullehre zu erwarten sind. Die Befragung ist nicht repräsentativ, d. h., die Befunde können nicht auf die Gesamtheit aller VWL-Studierenden in Deutschland übertragen werden. Sie dienen einer ersten Erkundung der Frage, wie Studierende sich zu ihrem eigenen Fach und der anhaltenden Pluralismusdebatte in Beziehung setzen. Hochschul- und geschlechterübergreifend erweisen sich dabei die Befunde als erstaunlich einheitlich. Dies lässt vermuten, dass in der Stichprobe womöglich allgemeine Wahrnehmungsmuster zum Ausdruck kommen, die ggf. auch an anderer Stelle Geltung besitzen. Um dies näher überprüfen zu können, bedarf es allerdings weiterer Untersuchungen.
Der Fragebogen der Studie bezog sich auf drei Themenbereiche: (1) die Selbstreflexion der Studierenden, die ihre Studienmotivation, ihre persönliche Entwicklung und ihre Berufswünsche umfasst; (2) die Fachreflexion, die auf die Wahrnehmung und Bewertung des ökonomischen Lehralltags abzielt; und (3) die Diskursreflexion, die sich mit der Kenntnis und dem Engagement der Befragten in der Pluralismusdebatte auseinandersetzt (siehe Langfassung des FGW-Forschungsberichtes). Im Vergleich dieser Dimensionen wird eine Diskrepanz zwischen einer recht ausgeprägten Selbst- bzw. Fachreflexion einerseits und einer eher verhaltenen Diskursreflexion andererseits deutlich.
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Hochschulübergreifend wenden sich die befragten Studierenden vor allem aus idealistischen Gründen der VWL zu. Sie haben ein grundlegendes Interesse an Wirtschaftsthemen (71,8 %), möchten gesellschaftliche Zusammenhänge durch ihr Studium verstehen lernen (61,3 %) und selbst einen aktiven Beitrag zu einer besseren Welt leisten (40,7 %). Dieser Idealismus zeigt sich auch in ihren Berufswünschen: Neben klassischen Karrierezielen wie Banken & Finanzen (18,5 %), Unternehmensberatungen (10,3 %) und Industrie (9,7 %) finden sich unter den sechs am häufigsten genannten Bereichen auch die Felder Politik & öffentliche Verwaltung (14,3 %), Forschung & Lehre (10,0 %) sowie gemeinnützige Organisationen (9,4 %). Der anfängliche Idealismus verliert sich jedoch nach vier Semestern VWL: Mehr als ein Drittel der befragten Studierenden gibt an, inzwischen überwiegend (8,3 %) oder teilweise (34,5 %) von ihrem Fach enttäuscht zu sein. Ein wesentlicher Grund hierfür: Sie empfinden die ökonomische Hochschullehre als praxisfern (55 %). Dies zeigt sich besonders bei der Wahrnehmung der Lehrinhalte.
Aus Sicht der Studierenden dominieren in der Ökonomik mathematisch-formalistische Ansätze, wie z. B. Gleichgewichts- (93,5 %) und aggregierte makroökonomische Modelle (92,4 %), Regressions- bzw. Zeitreihenanalysen (78,6 %) sowie agentenbasierte Simulationen (72,2 %). Andere, eher sozialwissenschaftlich geprägte Zugänge wie Fallstudien (27,5 %), Experimente (22,4 %), Diskurs- (8,4 %) und Netzwerkanalysen (3,0 %) oder Umfragen (11,4 %) werden dagegen kaum in den ersten vier Semestern vermittelt. Dies gilt ebenso für Neuerungen innerhalb der Volkswirtschaftslehre, wie z. B. die Bereiche Neuroökonomik (2,4 %) und Ökonophysik (0,6 %). Bezüge zu angrenzenden Fächern, die die ökonomische Analyse aus vielfältigen Perspektiven heraus ergänzen und erweitern könnten, werden gleichermaßen selten von den Studierenden erlebt (siehe Abbildung 1). Ihren Angaben zufolge konzentriert sich die ökonomische Hochschullehre auch nach der Finanz- und Wirtschaftskrise auf das Handeln von Individuen (46,9 %), während globale Systemzusammenhänge (29,9 %), Institutionen (12,5 %) oder Gruppen (5,1 %) bzw. Netzwerke (4,5 %) wenig Beachtung finden.
Abb. 1: Kaum interdisziplinäre Bezüge in der VWL (in %, N= 351, angegeben: explizite Bezüge werden „häufig“ oder „sehr oft“ hergestellt)
Die Studierenden nehmen darüber hinaus eine thematische Kluft zwischen den gesellschaftlich drängenden Problemen der Gegenwart (Gutes Leben, Ungleichheit, Wandel) und ihrem Fach wahr (siehe Abbildung 4 in der Langfassung des FGW-Forschungsberichtes). Die VWL bleibt aus ihrer Sicht vorwiegend neoklassischen Knappheitsaspekten verhaftet (d. h. der Grundannahme, dass eine begrenzte Menge an Ressourcen das Individuum zu rationalem, eigennützigem Handeln zwingt, um eben diese Knappheit für sich bewältigen zu können). Verteilungspolitische Fragen, so die Studierenden, sollten hier stärker mit einbezogen werden (57,7 %). Sie zweifeln außerdem an der mathematischen Beschreibbarkeit von wirtschaftlichen Phänomenen (47,2 %) und hinterfragen ebenso kritisch die vermeintliche Einigkeit im ökonomischen Fachdiskurs (66,3 %).
Die Kritik der Studierenden an der aktuellen Ausgestaltung der ökonomischen Hochschullehre führt allerdings nicht dazu, dass sie sich in der Pluralismusdebatte besonders engagieren. Der Großteil hat zwar von dieser Kontroverse bereits gehört (49,4 %). Nur wenige verfolgen die Debatte jedoch intensiv (13,7 %) und allein ein Bruchteil ist persönlich in entsprechenden Initiativen oder Veranstaltungsreihen am Hochschulort aktiv (6,4 %). Für dieses Missverhältnis zwischen inhaltlicher Kritik und fehlendem Engagement scheint vor allem der immense Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck maßgeblich zu sein, den Studierende hochschulweit beklagen (56,4 %). Dieser trage dazu bei, dass sich ihr Verhalten im Studienverlauf erheblich verändert.
Abb. 2: Wahrgenommene persönliche Veränderung nach 4 Semestern VWL (in %, N= 351, fünfstufige Antwortskala, angegeben: Eigenschaft hat „etwas“ oder „stark“ zugenommen)
Im Fragebogen wurden die Studierenden gebeten, anhand einer fünfstufigen Skala anzugeben, ob und inwieweit sich verschiedene Eigenschaften bei ihnen in den zurückliegenden vier Semestern verstärkt oder abgeschwächt hätten (siehe Abbildung 2). An allen Hochschulen und für beide Geschlechter zeigt sich dabei, dass Attribute wie Leistungsdruck, Karriereambitionen und Konkurrenzdenken während des VWL-Studiums deutlich zunehmen, während soziale Orientierungen wie Solidarität, Hilfsbereitschaft oder Einfühlungsvermögen in der Stichprobe an Bedeutung verlieren. Ordnet man diese Eigenschaften den beiden entgegengesetzten Menschenbildern eines eigennützig handelnden Homo oeconomicus (eines auf wirtschaftliche Zweckmäßigkeit bedachten Menschen) und eines gemeinwohlorientierten Zoon politikon (eines sozial und politisch denkenden Menschen) zu, so gewinnt ersterer unter den Befragten deutlich an Raum.1 In Übereinstimmung mit dem internationalen Forschungsstand lassen diese Befunde eine Anpassung der Studierenden an ein hochselektives, wettbewerbsorientiertes Klima in der Ökonomik vermuten. Dies könnte die ausbleibende Beteiligung der Befragten an der Pluralismusdebatte erklären.
Der Einfluss der hiesigen Pluralismusbewegung ist maßgeblich von der Bereitschaft der Studierenden abhängig, sich an ihrem Hochschulort uneigennützig für die Debatte einzusetzen. Uneigennützig deshalb, da der Ausgang der Pluralismusdebatte zum jetzigen Zeitpunkt inhaltlich noch offen und unbestimmbar ist und die Studierenden selbst als Gruppe von eventuell angestoßenen Veränderungen in der ökonomischen Hochschullehre vermutlich nicht mehr profitieren werden. Entsprechende Reformen werden – wenn überhaupt – eher nachfolgenden Generationen in der VWL zugutekommen. Die Uneigennützigkeit der Teilhabe an der Pluralismusdebatte steht nun im Widerspruch zu jenen Charaktereigenschaften, die während des Studiums in der Stichprobe verstärkt wurden. In einem äußerst wettbewerbsorientierten System scheinen die Befragten abwägen zu müssen, wie sie Zeit, Energie und Ressourcen investieren. Dabei geben sie anscheinend der Befolgung des klassischen Prüfungsstoffes, der über ihren späteren Studienerfolg entscheidet, den Vorzug vor einer Beteiligung an der Pluralismusdebatte, auch wenn sie deren Kritikpunkte durchaus teilen. Sollten sich diese Ergebnisse in weiteren Studien bestätigen, dann würde auf dieser Grundlage den Studierendeninitiativen der nötige Antrieb fehlen, um flächendeckende Veränderungen in der VWL einzuleiten. Für den Erfolg der Pluralismusbewegung wären dann fachexterne Impulse umso wichtiger: etwa durch bildungspolitische Initiativen zur Pluralisierung der ökonomischen Lehre, durch alternative Studienprogramme und Hochschulen sowie durch eine dauerhafte sozialwissenschaftliche Begleitforschung. Letztere könnte verstärkt auf die blinden Flecken der VWL sowie auf deren Konsequenzen für das Denken und Handeln der zukünftigen Studierendengenerationen aufmerksam machen.
Über den Autor:innen
Prof. Dr. Tim Engartner
Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Sprecher der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft.
Eva Schweitzer-Krah M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.