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Dieser Artikel wurde auf Agora42 erstveröffentlicht.
In der Kolumne Jenseits von Angebot und Nachfrage nehmen Autor*innen aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die fachlichen Scheuklappen der Lehrbuchökonomie ab und werfen einen pluralökonomischen Blick auf gesellschaftspolitische Fragestellungen.
Was Karl Lauterbach Ende 2022 von sich gab, war für einen so langjährigen Befürworter des durchökonomisierten Gesundheitssystems höchst bemerkenswert. Im Zusammenhang mit der sich bereits seit längerem abzeichnenden Medikamentenknappheit in Deutschland betonte er: „Es kann nicht sein, dass wir versuchen, bei den Wirkstoffen zum Teil ein paar Cent zu sparen, dann aber dafür die Versorgung der Bevölkerung riskieren.“
Der Widerspruch, der allem Anschein nach mittlerweile sogar glühenden Verfechtern allumfassender Ökonomisierung als unaushaltbar erscheint, besteht darin, dass Vorsorge und Effizienz letztlich unvereinbar sind. Will man umsichtige Daseinsvorsorge betreiben und die Bereitstellung von lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen erreichen, ist ökonomische Effizienz schlichtweg der falsche Weg. Dabei begegnet uns dieser Widerspruch von Vorsorge und Effizienz im Gesundheitssektor nicht nur in der jüngsten Versorgungskrise mit Medikamenten, sondern dieser Gegensatz zeigte sich nicht zuletzt auch während der Pandemie auf dramatische Weise: Wir mussten feststellen, hocheffiziente, teils privatisierte und dividendengenerierende Kliniken sind mit einer akuten Pandemie völlig überfordert.
Diese Überforderung ist jedoch keineswegs ein Versehen, sondern vielmehr die Kehrseite des Nihilismus eines bestimmten wirtschaftstheoretischen Denkens. Er zeigt sich darin, dass man Strukturen der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge wie Krankenhäuser oder Pflegeheime letztlich behandelt, als wären sie dasselbe wie ein Autokonzern oder eine Dosenfabrik.
Um das zu Grunde liegende Problem zu verstehen, ist ein Blick in die Ideengeschichte der Wirtschaftswissenschaften hilfreich. Denn gegen Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte man sich in vielen europäischen Ländern mit der grundsätzlichen Frage des Wertes von Gütern – ein Forschungsfeld, um das es seither in der zuständigen Disziplin, der Ökonomik, merkwürdig ruhig geworden ist. Im Kern ging es damals um die Frage, ob Güter einen Wert in sich tragen oder ob dieser Wert nur durch den Tausch am Markt entsteht. Letzteren Ansatz vertritt die Neoklassik, die bis heute die Ökonomik dominiert. Sie geht dabei stets von einem Marktteilnehmer aus, der mit einem festen Budget ausgestattet ist und völlig frei zwischen mehreren Gütern wählen kann. Der Wert ergibt sich in dieser extrem reduktionistischen Vorstellung dann nicht mehr aus der Arbeit, die in die Produktion des Gutes eingeflossen ist, oder aus dem Nutzen, die das Gut für die Gesellschaft hat. Es geht – kurzum – nur um den Tauschwert des Gutes. In der Neoklassik spricht man dabei von der „Rate der Substituierbarkeit“.
Nun darf man als Laie ja eigentlich vermuten, dass eine Theorie, die sich seit mittlerweile rund 150 Jahren behauptet, das Geschehen möglichst wirklichkeitsgetreu abbildet. In der neoklassischen Wert- beziehungsweise Nutzentheorie ist jedoch genau das Gegenteil der Fall. Sie ist nicht erfolgreich, weil sie die Realität richtig beschreibt, sondern weil sie viele Aspekte zugunsten einer einfacheren Darstellbarkeit schlichtweg weglässt.
Auf diese Weise wird ein unschlagbares Maß an Anwendbarkeit auf Kosten des Realitätsbezuges erkauft. Dass diese Werttheorie aber immer noch zu den Grundbausteinen des VWL-Studiums gehört, obwohl ihre Schwachstellen immer deutlicher zutage treten, ist Ausdruck eines ideengeschichtlichen Reflexionsmangels der Ökonomik; ein Mangel, den das Netzwerk für plurale Ökonomik immer wieder kritisiert.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Diese Theorie, die den Wert eines Gutes nur am Tausch festmacht, ist nichts weniger als ein Taschenspielertrick. Denn der Wert eines Guts wird hier anhand des relativen Wertverhältnisses zu einem anderen Gut abgeleitet, dessen eigener Wert wiederum durch den Austausch mit anderen Gütern bestimmt wird. In der philosophischen Teildisziplin der Erkenntnistheorie würde man in einem solchen Fall von einer offenkundigen Tautologie sprechen.
Dass es sich bei alledem jedoch nicht nur um Fragen für theorieverliebte Nerds handelt, kann man sich recht einfach mit einer kurzen Frage vergegenwärtigen: Haben zum Beispiel eine Packung Kaugummi und ein Krebsmedikament den gleichen Wert? Was würden Sie sagen? Bestimmt würden Sie antworten: „Nein, das Krebsmedikament ist viel teurer.“
Aber stellen wir uns diese Frage noch einmal und lassen dabei die aufzuwendende Geldmenge für einen Augenblick außer Acht, dann wird es etwas schwieriger. Denn wir kennen als Wertangabe von fast allem lediglich ein quantitatives Verhältnis der Austauschbarkeit; ganz so, als wären 1.000 Packungen Kaugummi letztlich dann doch dasselbe wert wie eine Dosis dieses überlebenswichtigen Medikamentes. An diesem einfachen Beispiel zeigt sich ein tief in der Neoklassik verwurzelter Nihilismus, der suggeriert, dass alle erdenklichen Güter und Dienstleistungen austauschbar wären, variiert man nur entsprechend das jeweilige Mengenverhältnis.
Dieser Nihilismus steht schließlich jedoch im Widerspruch zu grundlegenden Erfahrungen, die uns allen vertraut sind. So sind nicht alle Menschen mit einem ausreichenden Budget ausgestattet und kein Mensch ist sein ganzes Leben hindurch ökonomisch souverän und autonom, wie es das in der Neoklassik postulierte Modell annimmt. Wir sind sowohl in sehr jungen Jahren als auch im hohen Alter auf die Versorgung durch andere angewiesen – oft auch in anderen Lebensphasen.
Wie insbesondere die Ansätze der Care-Ökonomik herausgearbeitet haben, muss die Sorge dementsprechend als Schlüsselbegriff der menschlichen Existenz begriffen werden. Entgegen des neoklassischen Nihilismus geht es im Kontext existenzieller Sorge nicht um die relative Austauschbarkeit von Produkten. Vielmehr haben wir es in solchen Fällen mit einer absoluten Knappheit zu tun, deren Eigenlogik mit dem Konzept der ökonomischen Effizienz nicht bewältigt, sondern in dramatischer Weise verschärft wird. Die medizinische Versorgungskrise während der Pandemie und der nun akute Medikamentenmangel belegen diese Einsicht in anschaulicher Weise: Die Forcierung ökonomischer Effizienz im Gesundheitswesen führt zu einer offenkundigen Fehlsteuerung.
Dass Effizienzsteigerungen dennoch von einigen Akteur*innen gefordert und im Rahmen von Privatisierungsbestrebungen sogar weiter vorangetrieben werden, kann schließlich nur als Ausdruck von Profitinteressen begriffen werden. Diese machen sich den neoklassischen Nihilismus zu Nutze, um lebensrettende Maßnahmen privaten Verwertungs- und Akkumulationsprinzipien unterzuordnen.
Manuel Schulz studierte Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Marburg und wurde im Herbst 2022 am Institut für Soziologie der Universität Jena promoviert. Er engagiert sich seit 2015 in wechselnden Zusammenhängen rund um das Netzwerk Plurale Ökonomik und verfasst gelegentlich Blogbeiträge und Kolumnen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen insbesondere in der allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie sowie in zeittheoretischen Analysen auf dem Gebiet der Finanzmarktsoziologie.